Sie wusste es nicht, dass sich ihr Leben hier auf den Kopf stellen würde. In Deutschland drängen viele geflüchtete Frauen auf mehr Gleichberechtigung in der Beziehung. Oft endet das in einer Trennung.
Von Roshak Ahmad
Es war der Herbst 2016, als sich Rawaa Samman nach 26 Jahren Ehe plötzlich scheiden ließ und ein komplett neues Leben begann. Ein Jahr zuvor war sie mit ihrer fünfköpfigen Familie nach Deutschland gekommen, geflüchtet aus ihrem Heimatland Syrien. Samman feierte das: Sie postete Bilder auf Facebook, Familienglück vor dem Brandenburger Tor.
Die Bilder, die sie heute, vier Jahre später, hochlädt, unterscheiden sich: Die 48-Jährige zeigt ihre Haare jetzt und trägt kein Kopftuch mehr. Sie wolle Berlin ohne Trennwände kennenlernen, sagt Samman. „Ich habe mein Leben lang das Kopftuch getragen, jetzt verzichte ich darauf“, sagt sie.
Sammans Geschichte ist kein Einzelfall in Berlin. Viele Frauen mit Fluchtgeschichte aus muslimisch geprägten Ländern entscheiden sich hier, das Kopftuch abzulegen. Samman gehört aber zu den wenigen, die den Mut hatte, das neue Bild von sich selbst mit ihrer alten Umwelt über Social-Media zu teilen.
Eine Entscheidung, die nicht ohne Folgen blieb. Gleich unter den ersten Bildern griffen sie Männer in den Kommentaren an, beleidigten sie. Einer schrieb, sie verführe andere Frauen zur Sünde. Ein anderer meinte, Frauen wie Samman seien schuld an der Arabischen Revolution.
Das Tuch abzulegen, war für Samman keine einfache Entscheidung. Die Syrerin tastete sich langsam vor: Sie benutzte übergangsweise für neun Monate eine Mütze. Dann entschloss sie sich, ihre Haare richtig zu zeigen. Nachdem Samman das Kopftuch abgelegt hatte, dauerte es noch sieben Monate – dann entschied sie, sich scheiden zu lassen. Seitdem lebt sie zusammen mit ihren drei Söhnen in einer Wohnung in Spandau, unter den vieren herrscht eine Art WG-Atmosphäre.
Wie Samman drängen viele geflüchtete Frauen durch ihr neu gewonnenes Selbstverständnis auf mehr Gleichberechtigung mit ihrem Partner. Viele der Frauen stört die oftmals traditionelle Sicht der Männer, sie wollen die Repressionen nicht mehr hinnehmen.
Dieses Spannungsfeld aus Emanzipation und Selbstbestimmung auf der einen, und das Ringen um das private Glück auf der anderen Seite, beschäftigt Samman bis heute fast jeden Tag. „Ich habe Dinge ausprobiert, die mir früher in meiner Heimat unmöglich waren, wie zum Beispiel Reisen und Freundschaften finden“, sagt sie. „Ich fühle mich hier als eine völlig andere, ehrlichere und spontanere Person.“ Zum ersten Mal habe sie das Gefühl, selbst über ihr Leben bestimmen zu können.
Trennung ist auf dem Vormarsch
Scheidung sei bei syrischen Flüchtlingen auf dem Vormarsch, sagt Victoria Huwer von dem Projekt „Frauenkreise“, auf der arabischen Seite der Deutschen Welle. „Viele Ehen bleiben nur deshalb bestehen, weil die Eltern ihre Tochter verpflichten, den Zusammenhalt der Familie zu schützen – und nicht aus Liebe.“ Sich scheiden zu lassen, trauen sich demnach viele Frauen nicht, weil es als Schande empfunden wird.
Typisch für die Scheidungsfälle ist, dass die Frauen sehr jung verheiratet wurden, oft mit einem deutlich älteren Mann, und kurz danach das erste Kind bekommen haben. Das hat Folgen: Erst aus ihrer heutigen Perspektive, verstehe Samman, dass sie als junge Frau eigentlich gar keine Lust auf Familiengründung und Kinder hatte. Sie sei zwar nicht dazu gezwungen worden. „Ich habe mit freiem Willen geheiratet – aber einfach, um das Elternhaus verlassen zu können.“
In Europa ist das meist selbstverständlich: Die Kinder ziehen aus, wenn sie erwachsen werden. Für Samman ist dieser Schritt erst im höheren Erwachsenenalter gekommen – alleine wohnen. Bald zieht sie in ihre eigene Wohnung um.
Finanzielle Versicherung
Doch nicht alle Frauen entwickeln sich so schnell wie Samman. Welche Freiheitsrechte und Chancen zur Emanzipation das Leben in Deutschland bringt, ist bei Geflüchteten vor allem davon abhängig, wie die Frauen Zugang zu Hilfsstellen finden und wie sehr sie überhaupt von ihren Rechten wissen.
„Damit geflüchtete oder migrierte Frauen in Deutschland ein selbstbestimmtes Leben führen können, muss ihnen die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Teilhabe ermöglicht werden“, so wird die Expertin Delal Atmaca auf der Homepage des Projekts „SEID MUTIG MACHT MIT“, einem Projekt des Dachverbands „DaMigra“, zitiert.
Wichtig ist auch das Umfeld, in dem sich eine Frau befindet. In diesem Jahr lag der Jahresschwerpunkt auf dem Thema Arbeitsmarktintegration. Rund ein Drittel der Veranstaltungen widmeten sich diesem Schwerpunkt und unterstützten geflüchtete Frauen bei der selbstbestimmten Gestaltung ihres Weges in den Arbeitsmarkt.
Samman geht einer Beschäftigung nach, aber nur einer ehrenamtlichen. Einen richtigen Job zu finden sei schwer: „Die in Syrien gesammelten Erfahrungen und die privaten Kurse, die ich belegt habe, werden hier offiziell nicht anerkannt.“ Das ruiniere aber ihr Leben nicht: Sie akzeptiere die neuen Strukturen, sagt sie. Und sie fühle sich trotzdem finanziell sicher. Dank des Sozialversicherungssystems müsse in Deutschland niemand auf der Straße leben.
Ehrenamtlich engagiert sich Samman seit einiger Zeit beim Gestalt Institut. Unter anderem begleitet sie dort einen „Circle of Peace“. Dort sitzt Samman in einer Runde mit anderen Frauen verschiedenen Alter und verschiedener Hintergründe, sie tauschen ihre Erfahrungen aus. Samman berät die Frauen. Sie plant nun, eine vierjährige Ausbildung als Therapeutin bei dem Institut zu beginnen.
Rawaa Samman lächelt, wenn sie sagt: „Ich habe schöne Pläne, sie brauchen nur noch ein bisschen Zeit.“
Foto: Samuel Zeller via unsplash.com Lizenz: CC-BY 2.0