Oma und ich gehen spazieren. Wir streifen durch ihr kleines schwäbisches Dorf und teilen Erinnerungen, die sie hier gemacht hat.
von Salome Bühler
Jedes Haus macht eu eignen Spielplatz für sei Kinder
Find ih auh verrückt
Aber verstande tu ich’s neme
Oma und ich sind auf dem Weg zum Friedhof. Wie jedes Mal, wenn ich sie besuche, müssen wir am gleichen Tag zum Grab meines Opas gehen. Sie will mir zeigen, welche Blumen sie neu eingepflanzt hat. Gießen müssten wir aber nicht. Es regnet. Meine Oma wohnt in Degerschlacht, einem kleinen Dorf bei der schwäbischen Alb. Geboren ist sie in Unteropfingen im März 1932. Ihr Vater war Schmiedmeister. Ihre Mutter Hausfrau. Zu ihren Eltern hat sie kein sonderlich enges Verhältnis gehabt
–Und der da guck omal den hasch auch kennt. Kasch dir vorstelle wer des isch? , fragt Oma
Herr Pfanner?,sage ich
-Ja , sagt Oma
Der Glockenturm läutet.
Oma besucht Opas Grab jeden Tag. Sie findet es schrecklich, wenn Angehörige ihre verstorbenen Verwandten vergessen. Sich nicht um das Grab kümmern. Es verkommen lassen. Für sie gehört es dazu, sich auch nach dem Tod um die Person zu kümmern.
Herr Pfanners Ziegen sind jetzt auf der Achalm oder?, frage ich
-Noi. Die sind jetzt auf der Alb irgendwo. Also da hat er guckt, dass die gut unterbracht sind, weil des sind ja bsondere Ziegen. Einmal hat er se nach Betzinge nunder. Da hat er se verkaufe wille. Und da send se wieder heim komme, sagt Oma
Sie muss kurz unterbrechen, weil sie in Lachen ausbricht.
-Nach Degerschlacht. Und dann händ se et nei könne weil alles einzäunt war. Und dann send se bei der Martha Schmied in Garte nei und händ bei der die Geranien fresse, sagt Oma
Jetzt muss ich lachen.
Und die Frau isch jetzt fascht 100
Wir verlassen den Friedhof und laufen raus auf die Straße. Über die Kreuzung, vorbei an dem Metzger. Oma läuft schnell für ihr hohes Alter. Das ist ihr wichtig. Raus zu gehen. Sich zu bewegen. Das war schon immer so.
Omas Eltern hätten nichts von Bildung gehalten. Sie sei trotzdem in der Schule geblieben. Der Lehrer habe ihr immer gesagt, dass sie intelligent sei. Sie solle was aus sich machen. Sonst müsse sie hier bleiben. Und einen Bauer heiraten. Oma wollte keine Bauer heiraten.
Danach hat sie angefangen zu studieren. Niemand habe sie gelobt für ihren Fleiß. Sie fragt sich bis heute, wie sie das damals geschafft hat.
Also da han ih auch erst im Fernzehn so a Sendung guckt. Jetzt sind doch Lehrer gsucht, gel. Und ne Weile war doch Lehrer Überschuss, gel. Und jetzt kommet se ed rei. Und da hat einer gsagt ma muss immer gegeläufig studiere.
Sie bricht wieder in Lachen aus.
In der Hoffnung, dass man später Arbeit kriege.
Wir gehen vorbei an Garagen, Einfahrten, Hauseingängen, Autos und Laternen. Die Sonne scheint. Die Luft ist kalt. Wir tragen Jacken mit langen Ärmeln. Oma redet viel, ich höre zu .
Da bisch Gott dankbar wenn de hasch als Mädle was lerne dürfe.
-Bist du froh, dass deine Enkelin ohne Probleme studieren kann?
Ja da ben ih froh.
Wir erreichen den Feldweg. Von hier aus können wir auf die Stadt blicken. So ziemlich jeden Tag läuft Oma hier lang. Ich frage mich, ob das nicht irgendwann langweilig wird. Aber wahrscheinlich erleben wir so viel in unserem Leben, dass wir im Alter vor allem Zeit zum Nachdenken und Erinnern brauchen.
Alte Menschen werden oft als Problem dargestellt. Wenn wir Prognosen zur demographischen Alterung Deutschlands betrachten heißt es eigentlich immer: Es gibt zu viele alte Menschen. Beim Lesen solcher Vorhersagen bekomme ich meistens schlechte Laune.
Über die Aufgaben und Verantwortung, die die Menschen übernehmen werden solchen Prognosen nicht geredet. Über das Recht zu existieren, ohne aktiv zum Wirtschaftswachstum beizutragen auch nicht. Wenn alte Menschen nichts mehr tragen können, müssen sie darauf vertrauen, dass die Personen, die sie ihr ganzes Leben getragen haben nun das selbe für sie tun.
Und wenn jemand keine Familie hat?
Ich schlucke.
Wir drehen um und gehen zurück. Zuhause angekommen überlegen wir, ob es schon zu spät ist für Kaffee und Kuchen. Oma isst immer schon um achtzehn oder neunzehn Uhr zu Abend. Vespern wird es hier genannt.
-Hast du Opa geliebt?, frage ich
Ja sonst hätt ih en net geheiratet, sagt Oma
-Vermisst du Opa noch manchmal, frage ich
Immer vermiss ih denn, sagt Oma. Aber ed so wie er am Schluss war, weisch. Des war schlimm. Aber da hätt er au ed dafür könne. Da is er so ei richtiger Bühler gworde. So ein Eigensinniger.
Oma hat sehr unter Opas Demenz gelitten. Sie kann gar nicht mehr so genau sagen, wann sie bemerkt hat, dass Opa dement ist. Anfangs habe sie sich nur gefragt:
Wieso wird der denn auf eimal wied sei Schweschtern?
Er habe auch viele Dinge nicht mehr auf die Reihe bekommen. Auf der Bank hat er sich nicht mehr ausgekannt. Als sie einmal draußen standen meinte er sie solle mit reinkommen und überprüfen. Dass auch ja alles mit rechten Dingen vor sich geht. Abends klingelte die Polizei an der Tür und meinte „Ihr Mann war auf der Wache und wollte die Bank anzeigen.“ Da hat sie schon gemerkt, dass was nicht stimmt.
Oma muss lachen während sie mir davon erzählt. Auch mir huscht ein Grinsen ins Gesicht. Es ist tragisch. Das stimmt. Aber irgendwie auch amüsant. Zumindest so wie Oma es erzählt.
Oma denkt manchmal auch sie ist dement. Sie wisse viele Dinge nicht mehr. Würde vieles vergessen.
Ist das eine Demenz oder das Alter? Das weiß sie leider selber nicht. Sie wohnt immer noch alleine. Kocht, spült ab, zieht sich an. Manchmal hilft ihre eine Pflegerin. Außerdem kommt regelmäßig eine Reinigungskraft.
Oma und ich sind müde. Wir gehen Zähneputzen. Oma tut ihr Gebiss ins Glas. Ich schrubbe dafür länger als sonst. Dann treten wir aus dem Badezimmer in den Flur. Ohne Brille sieht sie anders aus. Irgendwie jünger. Sie blinzelt mit den Augen. Reibt sich mit der rechten Hand über Wange.
-Gute Nacht Oma. Träum schön.
Guts Nächtle. Schlaf gut Mädle.
Foto: Salome Bühler