Die Sexarbeiterinnen im Hamburger Bahnhofsviertel führen ein Leben auf der Straße, geprägt von Sucht und Ausgrenzung. Der Verein Ragazza hilft ihnen, den Alltag zu bewältigen. Porträt eines Milleus.
von Leyla Yenirce
Hamburg, ein gedrungenes Haus in einer unscheinbaren Seitenstraße: Hier arbeitet Ragazza, ein Verein, der sich um drogenabhängige Sexarbeiterinnen kümmert. Der Aufenthaltsraum ist versehen mit Fotos der Mitarbeiterinnen, auf der Küchentheke steht ein Korb mit Brötchen für das Abendessen. Die Mitarbeiterinnen führen eine FSJgruppe durch die Räume: Schlafraum, Konsumraum, Wundversorgungsraum. Es sieht aus wie im Ikea-Katalog, grelle Farben und helle Holzmöbel.
Draußen liegt Sankt Georg, das Bahnhofsviertel. Hier stehen billige Hotels, eines davon benutzen die Sexarbeiterinnen als Absteige, ein anderes geht mit Anwälten rechtlich gegen sie vor.
Ragazza hat geöffnet, wenn die Frauen arbeiten – und das ist auch nachts , wenn die Männer frei haben. Gudrun Greb leitet den Verein, sie sagt, fast alle Frauen arbeiteten auf eigene Karte. Geld an Zuhälter abdrücken können sie nicht, da ihre Einnahmen für Drogen und fürs Überleben draufgehen. Viele Sexarbeiterinnen kommen aus dem Ausland. An den jeweiligen Herkunftsländern der Frauen könne sie die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft ablesen, sagt Greb: „Vor einigen Jahren waren es noch Latinas oder Russinnen, heute sind es überwiegend Frauen aus Osteuropa und morgen vielleicht schon Griechinnen.“
Viele tragen offene Haftbefehle mit sich herum
Seit dem 1. Januar dürfen auch RumänInnen und BulgarInnen in Deutschland arbeiten. In den fünf Jahren zwischen 2007 und 2012 nach dem EU-Beitritt der beiden Länder sind von dort bereits 250.000 Menschen eingereist. AkademikerInnen haben oft weniger Probleme, sich zu integrieren, für sozial schwächer gestellte Menschen ist das schwieriger.
Manche wüssten schon vor ihrer Einreise, dass sie sich in Deutschland prostituieren werden. Andere kommen erst durch ihre schwierige Lage vor Ort in die Sexarbeit, sagt Greb. Viele der Einwanderinnen kämen alleine, fast alle stammten aus armen Familien und hätten keine Ausbildung. Die Chancen, sich in Deutschland zurechtzufinden, seien für diese Frauen gering.
Der deutsche Staat unterstütze die Migrantinnen aber nur wenig, sagt Greb. Er verschärfe das Problem durch eine Doppelkriminalisierung der Frauen eher. Es ist in St. Georg auf der Straße weder erlaubt, anzuschaffen, noch ist es in Deutschland erlaubt illegale Drogen zu konsumieren. Die Kontrollen der Polizei sind hart: Bereits seit 1995 gilt in Sankt Georg das sogenannte Gefahr
ngebiet. Das heißt, dass die Polizei jederzeit jeden Bürger ohne Grund kontrollieren darf. Dadurch stehen die Sexarbeiterinnen unter ständigem Druck. Zusätzlich gibt es eine Sperrgebietsverordnung, die Geldbußen für sexuelle Dienstleistungen vorsieht. Viele der Frauen tragen offene Haftbefehle mit sich, sagt Greb.
Der Drogenkonsum ist für die Frauen vor allem gefährlich, weil sie wenig über die Inhaltsstoffe wissen. Zwar dürfen die Frauen ihre Drogen im Ragazza konsumieren – in speziellen Räumen, die sauber und geschützt sind. Die Gefahr, dass die Stoffe verunreinigt sind besteht aber trotzdem. Oft sind in den Drogen Glassplitter, Beton oder Backpulver. Diese Materialien können sich in den Venen absetzen und für die Frauen lebensgefährlich sein.
„Die Frauen können sich immer neu entscheiden“
Greb sagt, dass die Drogen, die die Frauen mitbringen, meistens aus einem 5- bis 30-prozentigen Anteil puren Stoffes bestehen. Eine Frau, die an einen fünfprozentigen Heroinanteil gewöhnt ist, könnte bei einem 30-prozentigen Anteil eine Überdosis bekommen und sterben. Eine Zeitlang wurde der Konsum von Heroin immer mehr durch „Crack“ ersetzt, sagt Greb. Das sei „sozial verträglicher“, da die Droge meist nicht intravenös, sondern inhalierend konsumiert wird: „Crack wird in einer kleinen Pfeife geraucht, das ist unauffälliger als eine Spritze.“ Frauen, die Crack-abhängig sind, verbrauchen täglich zwischen vier und fünf Feuerzeuge. Um die Crack-Steine anzuzünden, stellen die Frauen das Feuerzeug auf die höchste Stufe. Viele verbrennen sich beim Rauchen des kokain- und natronhaltigen Drogengemischs das Gesicht, ätzende Spritzer verursachen Narben.
Die Frauen, das ist Greb wichtig, verkaufen nicht ihre Körper, sondern einen Dienst. Trotzdem würden sie von vielen Menschen in eine Schublade gesteckt: „Manche haben Mitleid, andere beschimpfen die Frauen oder wollen sie sogar wegscheuchen.“ Man könne die Sexarbeit gut oder schlecht finden, dürfe die Frauen aber nicht verurteilen.
Die Situation jeder einzelnen Frau kann sich jeden Tag ändern – da ist Greb sich sicher und das macht ihr Hoffnung: „Sie können sich immer neu entscheiden.“ Geborgen sind die Frauen allerdings nur im Ragazza. Außerhalb bekommen sie Ablehnung zu spüren: Auf den Straßen dürfen sie nicht arbeiten, die AnwohnerInnen wollen die Sexarbeiterinnen loswerden. Erst kürzlich beschwerte sich eine Initiative der Nachbarschaft in einem offenen Brief über die zunehmende Prostitution in der Gegend.
Die Beratungsgespräche im Ragazza bieten den Sexarbeiterinnen die Möglichkeit über ihre Probleme zu sprechen. Jede Frau dürfe sein und sagen, was sie möchte, so Greb. „Unsere Besucherinnen sind keine Opfer, unsere Besucherinnen sind starke Frauen“. Im Grunde wünschten sich die Frauen auch nur, was die meisten wollen: ein glückliches, sicheres Leben.
Leyla Yenirce, 22 Jahre, studiert seit 2011 Kultur der Metropole in Hamburg. Sie interessiert sich für die Stadt als Ballungsort verschiedener kultureller Alltagspraktiken, sozialer Handlungen und künstlerischer Ausdrucksformen. Bislang produzierte sie eine Radiosendung über die Kultur der Metropole. Darüber hinaus schreibt sie Rezensionen über Theaterstücke für das Thalia-Theater in Hamburg. Derzeit absolviert sie ein Praktikum beim Funkhaus Europa.