Wenn in Berlin ein Paar Kletterschuhe ein Loch bekommt, landet es wahrscheinlich bei Bryan Casas Toro auf dem Arbeitstisch: in der ersten auf Kletterschuhe spezialisierten Werkstatt der Stadt. Ein Tag mit einem Quereinsteiger im Schuhmacherhandwerk.
von Miriam Forderer
Auf dem Weg zu Bryan Casas Toros Werkstatt ist man nicht allein. Mehrere junge Leute gehen ebenfalls durch das große weiße Tor und über die Höfe des ehemaligen Fabrikgeländes. Sie tragen bunte Leggins, an ihren Rucksäcken hängen Kletterschuhe. Die Gruppe geht zielsicher auf den Eingang einer Kletterhalle zu. Vorbei an einem runden, aus Holz geschnitztem Logo: ein Kletterschuh an einem Felsen. Hier ist es also. Zuerst ertönt die Melodie der Klingel, dann verstummt das laute Brummen, das eben noch aus dem Gebäude drang. Ein Fenster öffnet sich und über einen Flaschenzug flitzt ein Schlüsselbund an einem Seil nach unten. Im zweiten Stockwerk angekommen, steht Bryan schon an den Rahmen seiner Werkstatttür gelehnt. Der erste Blick fällt auf seine großen goldenen Kreolen, drei an jedem Ohr. Der nächste erst auf seine Schürze, in der ein Hammer, Messer und Kugelschreiberminen stecken. Sein krauser Schnurrbart hebt sich, zieht sich in die Länge und das eben noch ernste Gesicht wird durch sein plötzliches Lachen zu dem eines frechen Jungen. Willkommen bei „Resoling Rocks“, Berlins erster Werkstatt spezialisiert auf Kletterschuhreparatur.
Bryans Sport ist eigentlich das BMX-Fahren. Schon als er noch mehr Kind als Jugendlicher war, übte er jeden Tag stundenlang Tricks auf Bogotas Straßen. Im Gegensatz zu Kolumbien, gibt es in Deutschland jedoch sehr lange Winter. Als Bryan vor vier Jahren nach Berlin zog, nahmen ihn Freunde zum Klettern in die Halle mit. Es gefiel ihm. So kam Bryan zum Bouldern, dem Klettern ohne Sicherung auf Absprunghöhe, einer der populärsten Trendsportarten Berlins. Doch BMXer zu sein, ist mehr, als einem Hobby nachzugehen. Es prägt den gesamten Lebensstil. Und genauso beschäftigt Bryan auch seine neue Leidenschaft Bouldern nicht nur, wenn er an der Wand ist. Seine ersten Schuhe hatten nach einem halben Jahr Löcher und ein Kollege bot ihm an, sie zur Reparatur nach Spanien mitzunehmen. Das regte ihn zum Nachdenken an: „Das müsste ich doch auch hinbekommen.“ und „Warum geht das eigentlich nicht in Berlin?“.
Bryan wendet sich wieder dem Inneren der Werkstatt zu. Auf dem Arbeitstisch liegen mehrere Paar Schuhe für den Arbeitstag bereit. Gestern hat er bereits das alte Gummi im vorderen Bereich der Schuhe abgeschliffen. Kletterschuhe nutzen sich vor allem im stark beanspruchten Bereich an der Spitze ab, erklärt er mir. Aber auch wenn der Rest des Schuhes noch intakt ist, sobald ein Loch im Gummi ist, muss ein neuer Schuh her. Das kann bei aktiven Sportler:innen alle paar Monate der Fall sein. Kletterschuhe als Spezialausrüstung eines Extremsports sind sehr teuer. Neu sind sie außerdem oft sehr unbequem, ein eingekletterter Schuh ist vielen Kund:innen lieber.
Heute verklebt Bryan neue Sohle. Er gießt frischen Kleber aus einem Kanister in einen Becher und der Raum füllt sich sofort mit dem scharfen Geruch. Der Abzug, den Bryan daraufhin einschaltet, kämpft dagegen an, bis es nur noch leicht nach abgestandenem Schweiß und Desinfektionsmittel riecht. Der Kleber tropft zähflüssig vom Pinsel auf das schwarze Gummi eines Kletterschuhs. Bryan verstreicht ihn großflächig in alle Richtungen. Ein Paar nach dem anderen bereitet er so zur Neubesohlung vor.
Zur Reparatur verwendet Bryan Originalmaterial, das er vom Hersteller der Schuhe bezieht. Denn dieser hat ein ökologisches Interesse daran, dass seine Schuhe nicht tonnenweise Müll produzieren und beliefert daher einige zertifizierte Schuhwerkstätten weltweit. Der Gedanke an die Umwelt war auch Bryans Motivation, die Werkstatt zu eröffnen. Er ist eigentlich Produktdesigner, hat früher unter anderem Lederrucksäcke genäht. Aber obwohl er die Kreativität dieser Arbeit liebte, Bryan wollte irgendwann nicht mehr produzieren. Es gäbe schon genug Konsum, viel notwendiger sei es nun, zu reparieren, statt neu zu kaufen.
Ein paar Riegel und eine Flasche Mineralwasser ersetzen das Mittagessen. Bryan schaut gedankenverloren aus dem Fenster. Mit Daumen und Zeigefinger entfernt er getrocknete Kleberreste an der anderen Hand. Er hat sich hingesetzt, kaut. Doch schon ist sein Blick wieder zum Arbeitstisch gewandert. Mit der Sohle nach oben liegen mehre Paar Schuhe dort. Ihre Oberfläche glänzt feucht. „So, weiter geht’s.“ Während der Kleber an der Luft reagiert, müssen die nächsten Arbeitsschritte vorbereitet werden. Die Reparatur ist ein anspruchsvoller Prozess. Denn jeder Schuh stellt einen anderen Ausgangspunkt dar und braucht das individuell passende Sohlenstück. Mit einer silbernen Mine zeichnet Bryan sich dafür Umrisse auf dem Plattenmaterial vor, schneidet sie aus und muss sie dann noch fürs Verkleben anrauen. Dafür hat er sich inzwischen Kopfhörer aufgesetzt, die Ausputzmaschine ist sehr laut und übertönt seinen Gesang. Ab und zu hört man einen Wortfetzen, mal auf Deutsch, mal auf Englisch, mal auf Spanisch.
Fünf Uhr, es ist Zeit für eine zweite Pause. Unten, in der Küche der Kletterhalle, macht sich Bryan einen Kaffee. Etwas abseits setzt er sich auf die Terrasse, zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch in die Luft. Boulderer kommen aus der Halle, setzen sich erschöpft auf die Bänke und ziehen sich die engen Schuhe von den Füßen.
Für Bryan ist der Tag lange noch nicht vorbei. Die vorbereiteten Schuhe müssen mit den Sohlenstücken verklebt und in einer Presse fixiert werden. Neu besohlt müssen sie dann noch ein letztes Mal geschliffen werden, möglichst so, dass sie wieder ihre ursprüngliche Form erhalten. Da Bryan als Boulderer weiß, was einen guten Schuh auszeichnet, arbeitet er hier besonders genau.
Zurück in der Werkstatt schaltet Bryan das Licht an, draußen ist es noch hell, aber die Sonne steht schon tief. Das einzige Fenster erhellt den Raum nicht mehr gut genug. Auf seinem Hocker sitzend, nimmt Bryan den ersten Schuh zwischen die Knie und setzt das passende Stück Gummi auf die Unterseite. Mit dem Hammer bearbeitet er die Ränder und legt den Schuh dann in die Presse. Geräuschvoll bläst sich das Kissen auf und umschließt den Schuh. Die Stoppuhr piepst, als Bryan auf Start drückt. Drei Minuten pro Schuh, dann noch in die zweite Presse. Paar für Paar.
Die letzten Arbeitsschritte können noch mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Dabei würde Bryan gerne auch mal früher Feierabend machen, seit zwei Monaten ist er Vater. Seine Tochter schläft oft schon, wenn er nach Hause kommt. Aber dafür bräuchte er Unterstützung. Doch Schuhmacher:innen gibt es in Deutschland kaum noch. Obwohl der Bedarf da ist, sagt er, zumindest in der Kletterschuhreparatur. Es gibt zehn Boulderhallen in Berlin.
Inzwischen ist es dunkel. Es ist fast zehn Uhr. Bryan betrachtet einen neu besohlten Schuh, den er in der Hand hält, und entscheidet sich dazu, die Kante noch einmal mit dem Schleifer zu bearbeiten. Von unten hört man Stimmen. Die letzten Boulderer, die die Halle verlassen, werfen noch einen Blick nach oben zum hell erleuchteten Werkstattfenster. Dann schwingen sie sich auf ihre Rennräder und verschwinden um die Ecke. Ihre Kletterschuhe baumeln an ihren Rucksäcken und scheinen zum Abschied zu winken.
Foto: Miriam Forderer