In der eigenen Hand

Im Nagelstudio ist Thi Thanh Diep Phan ihre eigene Chefin. Überdurchschnittlich viele Migrant*innen machen sich selbstständig. Das ist kein Zufall.

von Phan Thieu Hoa Nguyen

Thi Thanh Diep Phan sitzt an der Rezeption ihres Nagelstudios und knetet ihre Hände. Sie sind schmal und knochig. Wachsam beobachtet die Nageldesignerin vorbeilaufende Passant*innen—potenzielle Kundschaft. Sie schaut ernst, dann lächelt sie plötzlich. Mit einem Klack öffnet sich die Tür und eine Frau in Pelzmantel betritt den Laden. „Wieder eine Maniküre?“ Die Kundin grinst und nickt, man kennt sich. Phan zeigt auf den Stuhl an einem schmalen Tisch. „Bitte nehmen Sie Platz.“ 

Im Nagelstudio ist Phan ihre eigene Chefin: Wie sie machen sich immer mehr Migrant*innen selbstständig. Migrant*innen gründen zudem überdurschnittlich gern: Laut einer Studie der Förderbank KfW stellen sie in Deutschland 21 Prozent der Gründer – bei einem Bevölkerungsanteil von lediglich rund 18 Prozent. Dahinter stecken nicht nur wirtschaftliche Gründe.

Die 62-jährige Phan führt zwei Studios in Wiesbaden und Mainz, ihr erstes gründete sie vor zwölf Jahren. Heute hat sie acht Angestellte. Sie sitzen an Tischen, die in einer Line aufgereiht sind und tragen Mundschutz aus Stoff. Während sie die Hände der Kund*innen konzentriert ins Licht halten, einzelne Finger langsam drehen und Nagelbetten modellieren, füllen die Nagelfräser den Raum mit einem Surren. 

Selbstständigkeit ist kein Zufall

Gegen Mittag kommt eine Kundin zur Rezeption und möchte ihre Maniküre bezahlen. Phan fragt: „Schon fertig? Du brauchst noch neue Wimpern—für schöne Augen.“ Sie neigt ihren Kopf zur Seite und blinzelt die Frau mit großem Augenaufschlag an. Beide lachen, kurze Zeit später hat die Kundin neue Wimpern. Phans Handy klingelt, sie muss rüber in ihr anderes Studio. Als sie zurück ist, sagt sie: „Diese Arbeit ist hart und ich trage viel Verantwortung. Aber die Selbstständigkeit bietet mir die Möglichkeit, mehr Geld zu verdienen als für andere zu arbeiten, vor allem als migrantische Frau.“  

Es ist kein Zufall, dass sich so viele Migrant*innen wie Phan selbstständig machen.

Oft kommen sie aus Ländern, in denen es leichter und dadurch üblicher ist, eigene Unternehmen zu gründen. Selbstständigkeit ist für sie ein gängiges Arbeitsmodell. Zusätzlich haben sie es in Deutschland schwer Jobs zu finden, da ihre Abschlüsse meistens nicht anerkannt werden und sie die deutsche Sprache neu lernen müssen. 

Khazal Ahwazi sagt: „Wenn du dein eigener Chef bist, kann sich niemand beschweren, dass du schlechtes Deutsch sprichst.“ Als Berater in einem Verein zur Unterstützung von selbstständigen Migrant*innen und Geflüchteten bekommt er vieles mit: „In den meisten Fällen haben die Menschen in ihren Herkunftsländern bereits kleine Unternehmen geführt—sie haben Erfahrung darin und möchten sich auch hier etwas aufbauen.“ Finanziell unabhängig sein und die eigenen Chancen erhöhen, in Deutschland bleiben zu können: das seien häufige Motive. Er fügt hinzu: „Naja, und für Deutschland ist das auch gut. Die Leute bringen neue Ideen und Waren hierher.“  

2,5 Millionen Arbeitsplätze

Dadurch, dass mehr Migrant*innen Unternehmen gründen, sind der Studienstiftung zufolge 2,5 Millionen Arbeitsplätze entstanden. Zu weiten Teilen stellen diese Unternehmer*innen Personen ein, die einen ähnlichen kulturellen Hintergrund haben und dieselbe Muttersprache sprechen. Denn oftmals sind sie untereinander stark vernetzt. Auf informellen Wegen geben sie berufliches Wissen weiter und vermitteln sich gegenseitig Arbeitsplätze. 

Es ist 15 Uhr und Phan hat noch keine Pause gemacht. Eine Kundin beschwert sich über den vermeintlichen Acryl-Gestank, ein Geruch, der nicht zu vermeiden ist. „Diese Frau soll sich nicht so anstellen. Wir sind hier in einem Nagelstudio, nicht auf einer Farm“, sagt Phan zu ihrer Kollegin—auf Vietnamesisch, damit die Kundin es nicht versteht. Situationen, in denen es zu unangenehmen Interaktionen mit der Kundschaft kommt, sind nicht selten. „Manchmal fehlen mir die richtigen Worte auf Deutsch oder ich kann meinen Ärger vor den Kunden nicht zeigen. Dann ist es gut eine eigene Sprache zu haben—kurz mal fluchen oder meine Kollegen fragen, ob ich gerade spinne.“ 

Wenig später ist Phan mit ihrer Kundin fertig und kann endlich etwas essen. In der Küche im Hinterraum dampft es aus dem Reiskocher, daneben stehen Schüsseln mit karamellisiertem Schweinebauch und eingelegtem Kohl. „Wie Zuhause.“ Phan lacht laut und schiebt sich Reis in den Mund. „Ich arbeite gerne mit Vietnamesen.“

Ermächtigung

Die Schwierigkeiten der anderen kennen und in einer Sprache, die nicht von der Mehrheitsgesellschaft gesprochen wird, einen Schutzraum haben. Die Autorin Arpana Aischa Berndt schreibt darüber, wie ermächtigend es sein kann, sich mit bestimmten Menschen zusammenzutun. Berndt sieht viel Potenzial in Gruppen, die sich aus Menschen mit Migrationshintergrund oder mit anderen geteilten Marginalisierungserfahrungen zusammenschließen—sowohl politisch als auch im Arbeitskontext. Zuletzt hat sie in einem Projekt gearbeitet, größtenteils von und mit People of Colour. Es sei wichtig, dass einem Diskrimierungserfahrungen nicht abgesprochen werden und dass andere mitfühlen und Unsicherheiten nachvollziehen können. „Aber auch nicht ständig die gleichen Diskussionen führen und sich rechtfertigen zu müssen, gibt einem die Energie, sich auf das zu konzentrieren, was einen weiterbringt.“

Am Ende eines langen Arbeitstages zählt Phan, wieviel sie eingenommen hat. Zum ersten Mal ist es ruhig um sie herum, die Kolleg*innen sind schon gegangen. Sitzend lässt sie ihre Füße über dem Boden baumeln. Mit schnellen Bewegungen klappt sie mit Zeigefinger und Daumen jeden Schein in ihrer Hand einmal um und rechnet leise murmelnd in ihrem Kopf die Summe zusammen. Es war ein guter Tag. Sie steckt das Geld in ihre Tasche, schließt den Laden ab und atmet tief durch. 

 

Foto: duluoz cats via flickr.com Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0


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