Immer mehr Menschen zieht es in die Großstädte. Doch günstiger Wohnraum ist knapp. Viele leben deshalb in prekären Verhältnissen. Über die Konsequenzen einer fehlgeschlagenen Wohnungspolitik.
von Simon Hrubesch
Es ist neun Uhr, Tim Lübke steht im Zimmer einer Wohngemeinschaft im Zentrum Hamburgs. Vor zwei Stunden ist er aufgestanden, bald muss er zur Arbeit, ihm steht eine Zwölfstundenschicht bevor. Lübke hebt die Matratze an, auf der er die Nacht verbracht hat, und stellt sie an die Wand. Ließe er sie liegen, könnte man den Raum nicht mehr betreten – so eng ist es hier. Neben der Matratze an der Wand steht ein Bett, das Bett seines Bruders. Seit zwei Monaten wohnt Tim schon mit ihm in dem 13 Quadratmeter kleinen Zimmer. „Er hat mich bei sich aufgenommen, weil ich nicht wusste wohin“.
Immer mehr jungen Menschen geht es wie Lübke, immer mehr finden einfach keine eigene Wohnung oder ein eigenes Zimmer. Rolf Bosse, Pressesprecher beim Hamburger Mieterverein, bestätigt den Mangel: Selbst wenn es in Hamburg durch ein Wunder plötzlich 40.000 günstige freie Wohnungen gäbe, sie wären „sofort weg“. Und selbst dann, sagt er, wären ausschließlich jene versorgt, die bereits in prekären Verhältnissen wohnen.
Das Angebot an bezahlbaren WG Zimmern ist minimal
Einer in diesen Verhältnissen ist Lübke, Wuschelhaare und runde Brille. Der 29-Jährige heißt eigentlich anders, will seinen Namen aber lieber nicht veröffentlicht sehen. Er sitzt auf einem zerschlissenen Sofa, löffelt sein Müsli, hinter ihm an der Wand stapeln sich seine Umzugskisten. Aus seiner alten WG musste Lübke ausziehen, weil er sich nicht mehr mit seinen Mitbewohnern verstand. Vor fünf Monaten erfuhr er, dass er ausziehen muss, seitdem ist er auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Ohne Erfolg.
Jeden Tag schreibt er Bewerbungen auf dem Portal WG-Gesucht. Am Laptop scrollt er über seine letzten gesendeten Nachrichten: Heute, 7:14 Uhr; gestern, 8:29 Uhr, 8:43 Uhr. Ungefähr 250 Anfragen hat er schon geschickt. Die Mail, die er an interessante WG-Inserate schickt, klingt sympathisch. Er schreibt von seinen Reiseerfahrungen, von Südafrika, Tansania, Australien. Darüber, dass er kein Problem mit Putzen hat. Trotzdem bekommt er nur auf etwa jede zehnte Mail eine Antwort.
Wie angespannt die Lage auf dem Hamburger Wohnungsmarkt ist, zeigt ein einfaches Rechenbeispiel. Sucht man auf WG-Gesucht nach Zimmern bis maximal 500 Euro und nicht kleiner als acht Quadratmeter, unbefristet, bleiben von den 26.400 Angeboten nur noch 550 übrig. Nicht gerade viel, bei einer Stadt mit 1,8 Millionen Einwohnern und 120.000 Studierenden.
Es fehlen 150.000 Wohnungen
Um dennoch eine Einladung zu einer begehrten Besichtigung zu erhalten, lässt Lübke auch mal etwas weg: Dass er arbeitet, erwähnt er in seiner Bewerbung nicht. „Das schreckt bei WGs nur ab“, sagt er. Lübke ist im zweiten Lehrjahr seiner Kochausbildung, im Monat verdient er 600 Euro. Eine eigene Wohnung kommt für ihn deshalb nicht in Frage.
Maximal 30 Prozent des Gehalts sollte eine Miete betragen, darüber gilt sie nicht mehr als sozialverträglich. Die Heinrich-Böckler Stiftung errechnete basierend auf dieser Annahme für Hamburg ein Defizit von 150.000 Wohnungen für Menschen mit einem Einkommen unterhalb des Durchschnitts. Entsprechend umkämpft ist bezahlbarer Wohnraum.
Erst kürzlich war Lübke bei einer Besichtigung, bei der die Bewohner innerhalb von zwei Stunden über 140 Anfragen bekommen hatten. Bei wie vielen Besichtigungen er war, weiß er nicht. Mehr als 20 waren es sicher. „Viele lassen sich darauf ein, dass sie in ranzigsten Zimmern wohnen, einfach weil sie in einer Notsituation sind“, erzählt er. Auch er würde sich mittlerweile mit wenig zufrieden geben.
„Wohnraum in katastrophalem Zustand“
Mietrechtsexperte Bosse vom Mieterverein sagt: „Der große Druck wird in allen möglichen Bereichen ausgenutzt, etwa mit Preistreiberei.“ Da werde gern mal versucht, den maximalen Preis für eine Wohnung zu erzielen, auch unter Umgehung der Mietpreisbremse. Vermieter seien in einer Machtposition: Sie haben die Wahl. „Am Ende bekommt der Mieter die Wohnung, der horrende Abstandszahlungen übernimmt, oder sich bereit erklärt Wohnraum in katastrophalen Zustand selbst zu renovieren“, sagt Bosse.
Lübke setzt es inzwischen zu, keine eigene Bleibe zu haben. „Das schlaucht schon ungemein“, sagt er. Wie schwer erträglich diese Situation ist, weiß die Psychologin Antje Flade. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt erklärt sie, dass Wohnen „Sicherheit, Geborgenheit und Privatheit“ bedeute. „Wer Angst hat, seine Wohnung zu verlieren, erlebt eine extrem belastende Situation“, sagt Flade. „Es ist ein kritisches Lebensereignis, das die eigene Identität betrifft.“
In der Wohnung seines Bruders stellt Lübke die Müslischlüssel weg. „Es ist wie beim Lotto, Wohnungsroulette“, sagt er und lacht. Dann wird er plötzlich ernst, macht eine Pause. Geschlagen geben wolle er sich aber längst nicht, sagt er. „Aufgeben ist keine Option.“
Foto: Joseph Albanese via unsplash.com / CC0