Dass wir uns mit unseren Eltern in einer Sprache verständigen können, die wir als Säugling schon lernen, ist so selbstverständlich, dass es ein Wort dafür gibt: Muttersprache. Was aber, wenn man die Sprache der Mutter nicht spricht?
von Miriam Emefa Dzah
„Atiglinyi – wörtlich heißt das Baumschubser“. Ami Akoto und die fünf anderen Kursteilnehmer*innen lachen, als die Dozentin erklärt, dass dieses Wort in der Ewe-Sprache Elefant bedeutet. Es ist Donnerstagnachmittag und wie jede Woche um diese Zeit sitzt Akoto in einem Seminarraum der Humboldt Universität in Berlin. Mit gerunzelter Stirn versucht sie den Unterschied zwischen einem hoch- und einem tieftonigen Vokal herauszuhören. Akoto geht es nicht um einen Schein fürs Studium, berufliche Qualifikation oder die Vorbereitung auf den nächsten Urlaub. Ewe ist die Sprache ihrer Mutter, aber eben nicht Akotos Muttersprache. Die hat sie zu Hause nicht gelernt und versucht dies nun im Sprachkurs nachzuholen.
Mit diesem Wunsch ist Akoto nicht allein. Viele Eltern mit afrikanischem Hintergrund bringen ihren Kindern ihre Muttersprachen nicht bei. Für die Kinder hat das oft schwerwiegende Folgen.
„Endlich wachgerufen“
Das Pflegen der Sprache der Eltern wird oft als Hindernis für die Integration von Migrant*innen gesehen. So titelte die Bild-Zeitung im vergangenen November: „Nur eins von 103 Kindern spricht zu Hause Deutsch.“ Doch man kann es auch andersherum sehen. In 56 Prozent aller Haushalte, in denen mindestens eine Person mit Migrationshintergrund lebt, wird vorwiegend Deutsch gesprochen. Viele lernen die Sprache der Eltern also gar nicht. So war es auch bei Akoto.
Vokabeln, Grammatik und Aussprache – all das muss Akoto auf Ewe nun mühsam lernen. Das kann frustrierend sein, wenn man die Sprache eigentlich ohne Aufwand beherrschen könnte. Aber Akoto schwärmt: „Ich bin so dankbar, dass diese Sprache, die ich mein Leben lang gehört habe, aber nicht sprechen konnte, endlich wachgerufen wird.“
Die Sprache Ewe wird von drei Millionen Menschen in Togo und im östlichen Ghana gesprochen. Sie gehört zu den Niger-Kongo Sprachen, der größten Sprachfamilie Afrikas.
Die Tatsache, dass viele die Sprachen der Eltern zu Hause nicht sprechen, wird in Bezug auf afrikanische Sprachen besonders deutlich. Nur 33 Prozent aller Haushalte, in denen mindestens ein Mitglied Wurzeln in nicht-arabischsprachigen Ländern Afrikas hat, wird die Sprache des Herkunftslandes gesprochen. Das zeigt sich auch in Akotos Kurs. Drei der sechs Teilnehmer*innen müssen einen Sprachkurs besuchen, um die Sprache ihrer Eltern zu erlernen. Die drei anderen wollen die Sprache schlicht aus Interesse lernen, ihre Eltern sprechen kein Ewe.
Die eigene Herkunft nicht „beweisen“ können
Sprache ist Identität. Akoto wird eine Frage sehr oft gestellt: „Woher kommst du?“ Auch, wenn ihr die Frage grundsätzlich unangenehm ist, glaubt Akoto, wäre sie leichter zu beantworten, wenn sie Ewe sprechen würde. Gerade als Linguistikstudentin hat sie oft befürchtet, nach einer „Kostprobe“ ihrer Herkunftssprache gefragt zu werden. Obwohl sie niemandem eine Antwort schuldig ist, hatte sie oft das Gefühl, ohne Kenntnis der Sprache ihre togolesische Herkunft nicht „beweisen“ zu können.
Akoto und ihr Bruder sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. In ihrer Kindheit haben sie zu Hause vorwiegend Deutsch gesprochen. Akotos Mutter wünschte sich, dass ihre Kinder Deutsch perfekt beherrschen, um ihnen damit einen Grund für Diskriminierung und Demütigung ersparen zu können, die sie selbst zu gut kannte. Für die Entscheidung ihrer Mutter hat Akoto großes Verständnis, weil sie weiß, wie viel die erste Einwanderergeneration auf sich nehmen musste.
Akoto macht nicht nur der Blick auf das Schild „Mohrenstraße“ an der Kreuzung zu Akotos Universitätsgebäude schmerzhaft deutlich, dass Diskriminierung in Deutschland Alltag ist. Die 28-Jährige kennt viele schwierige Situationen aus ihrem Umfeld: Es sind Berichte von Elternabenden oder Arztbesuchen, bei denen Verwandte aufgrund ihrer Sprachkenntnisse nicht ernstgenommen wurden. Umso mehr übernahm sie den Wunsch ihrer Mutter, ihr Deutsch zu perfektionieren und dem Gegenüber zu beweisen, dass sie „dazu“ gehört und eben nicht den negativen Erwartungen entspricht, die auf einen projiziert werden.
Wann ist Mehrsprachigkeit erwünscht?
Ein anderer Grund dafür, warum Kinder afrikanischer Eltern wie Akoto ihre Sprachen lange nicht gelernt haben, ist, dass die Sprachen von der Mehrheitsgesellschaft nicht geschätzt werden.
Für mehrsprachige Kindergärten und Schulen sind viele Eltern bereit, viel Geld zu zahlen. Während eine mehrsprachige Erziehung auf Englisch oder Französisch als Privileg gilt, werden afrikanische Sprachen als Hindernis für die Integration angesehen. Wann ist Mehrsprachigkeit erwünscht, wann wird sie gezielt gefördert, wann als schädlich verdammt? Die Autorin Magarete Stokowski kritisiert in dem Buch „Eure Heimat ist unser Albtraum“, dass gewisse Sprachen als „ausländisch“ gelten, während andere in die Kategorie „sexy Expat-Sprache“ fallen.
Dabei betonen Sprachwissenschaftler*innen die Nützlichkeit jeder Mehrsprachigkeit. Laut Studien des Leibniz Zentrums für Allgemeine Sprachwissenschaft solle die Herkunftssprache zuhause nicht vernachlässigt werden. Eltern, die mit ihren Kindern nur noch Deutsch sprechen, fördern damit die Sprachentwicklung der Kinder nicht – im Zweifel verschlechtern sich sogar die Fähigkeiten in beiden Sprachen.
„Wenn du zu spät kommst, werde ich dich strafen“
Ein weiterer Grund, die eigene Muttersprache nicht weiterzugeben, liegt im Heimatland der Eltern Akotos. In Togo ist Französisch die Amtssprache, also Unterrichtssprache an Schulen und Universitäten, während Ewe nur als eines der Grundschulfächer gelehrt wird. Akotos Mutter ist in einer Zeit aufgewachsen, in der der Gebrauch der Muttersprache in der Schule nicht nur vernachlässigt, sondern auch drastisch bestraft wurde. Das führte zu der absurden Situation, dass Missionare Ewe schriftlich teils besser beherrschten als Muttersprachler*innnen.
Oheneba Boateng, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin sagt: „Sprache verkörpert Erfahrung und Identität. Wenn Schüler dafür bestraft werden, ihre eigene Sprache zu sprechen, durchdringt das die Psyche und macht es schwer, das koloniale System zu durchbrechen.“
In Akotos Kurs in der Humboldt Universität reicht die Dozentin einen Sprachführer herum, den der Missionar und Linguist Diedrich Westermann 1913 verfasst hat. Darin sind nützliche Begriffe für den Besuch auf dem Markt, Redewendungen für alltägliche Unterhaltungen. Auf den ersten Seiten finden sich Landkarten der damaligen deutschen Kolonien. Akoto blättert und liest aus dem Kapitel „Hausarbeit“. In der ersten Zeile steht in altdeutscher Schrift die Übersetzung für das Wort Diener: „subola“. Sie liest einen Dialog mit der jeweiligen Ewe Übersetzung vor: „Wie alt bist du?“, die Antwort: „Ich bin 14 Jahre alt“, daraufhin: „Willst du für mich arbeiten?“, schließlich: „Jawohl, mein Herr“. Es geht weiter mit den Übersetzungen für Sätze wie „Heute bist du faul gewesen“ oder „Wenn du zu spät kommst, werde ich dich strafen“.
Sprache ist Identität
Die Muttersprache ihrer Mutter lernen, das heißt für Akoto im Seminar auch, Jahrzehnte zurück in die Kolonialzeit zu springen. Im Dienste der christlichen Missionierung wurde Ewe erstmals verschriftlicht. Um die Bibel übersetzen und verbreiten zu können, entwickelten deutsche Missionare das Ewe-Alphabet und hielten grammatikalische Regeln fest. Der einflussreichste unter ihnen war Westermann, der als Mitbegründer der Afrikanistik gilt und am heutigen Institut für Afrika und Asienwissenschaften der Humboldt-Universität tätig war – wo Akoto heute Ewe lernt.
In diesen Räumen wurden vor etwa hundert Jahren noch Kolonialherren ausgebildet. Das Institut wurde gegründet kurz nachdem Deutschland seinen Platz unter den Kolonialmächten fand. Kolonialbeamte und Missionare sollten auf ihren Aufenthalt in den Kolonien vorbereitet werden, Sprachen und politische Leitlinien erlernen. Nun sitzen in diesen Räumen ausgerechnet junge Studierende, deren Familien aus den ehemaligen Kolonien stammen und ihnen diese Sprachen nicht beigebracht haben. Auch wenn die koloniale Geschichte dazu beitrug, dass ihnen die eigene Sprache vorenthalten wurde, steht die historische Betrachtung für Akoto und ihre Kommiliton*innen nicht im Vordergrund. Für sie überwiegt die Freude, diese Sprache endlich zu lernen.
Das Seminar neigt sich dem Ende zu, als Akoto auf ihr Handy schaut und liest „Nkekea yi nyuie a?“ Ihre Mutter fragt, ob sie einen schönen Tag hatte. Was für Außenstehende wie eine Kleinigkeit wirken mag, freut Akoto sehr. Endlich kann sie kleine Unterhaltungen mit ihrer Mutter auf Ewe führen. „Es ist, als würde ich nochmal einen anderen Teil von mir selbst kennenlernen“ sagt Akoto.