„Wenn Nazis mich sehen, fangen sie an nachzudenken“

Memet Aras gehört ein Dönerladen in Berlin-Treptow. Er war der erste in seinem Kiez nach der Wende. Deshalb nennt er sich einen Integrationsbeauftragten – für Deutsche.

von Erica Zingher

Memet Aras hat sein erstes, richtiges Geld den Amerikanern zu verdanken. Aras ist Anfang 20, lebt mit seinen Eltern in Westberlin, als er sich selbstständig machen möchte. In Lichtenrade Ost, weit weg vom aufregenden, wilden Teil Berlins, eröffnet er mit einem Freund einen Imbiss. Sie verkaufen Döner. Dort an der Grenze leben stationierte US-Amerikaner in ihren Kasernen. Sie sind hungrig, haben viel Geld und suchen einen Ort es auszugeben. So fahren sie fast täglich mit ihren Jeeps vor, bestellen 50, manchmal auch 60 Döner auf einmal und machen Aras damit zum Unternehmer.

25 Jahre später steht der 49-Jährige in seinem neuen Laden namens Pamukkale, ein richtiger Dönerladen, kein Imbiss mehr. Es sind die ersten warmen Tage im März. Draußen laufen die Menschen in T-Shirts. Drinnen schwitzen Aras und seine Mitarbeiter. Aras seufzt, streift sich den kurzärmligen Pullover über den Kopf und sagt: „Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll.“ Dabei hat der Tag gerade erst begonnen, es liegen noch zehn Stunden zwischen Dönerspießen vor ihm. Und an den Sommer will er erst gar nicht denken.

Memet Aras Geschichte ist die eines Mannes, der kämpft. Um seine eigene Integration. Und die Integration von Deutschen in eine Gesellschaft, die längst vielfältig und offener geworden ist. In diesem Kampf gerät Aras auch zwischen die Fronten.

Die Schatten sind immer größer geworden

Als ich Aras das erste Mal treffe, steht er im Späti hinter dem Tresen und verkauft mir Bier. Ich bin gerade umgezogen, zum Baumschulenweg. Es ist Sommer, ich trage ein grünes, luftiges Kleid, er strahlt und nennt mich „grüne Sonne“. Das ist vier Jahre her, heute sind wir Freunde, Kiez-Freunde. Wir sehen uns fast täglich, wenn nicht in seinem Späti, dann zufällig auf der Straße. Man grüßt sich, tauscht sich kurz aus. Wir wissen wenig übereinander,  was uns verbindet, ist der Alltag.

Aus den kleinen Boxen bei Pamukkale klingt leise Chartmusik, am hinteren Ende des Raumes reihen sich drei Spielautomaten aneinander, davor lehnen Männer an der Wand. In einer Hand das Bier, mit der anderen drücken sie in regelmäßigen Abständen auf einen Knopf am Automaten. Sie tragen Jeans, dazu einfarbige T-Shirts. Ihre Gesichter sind rot, manchmal tragen sie Glatze. Bei jedem neuen Gast schauen sie kurz  auf, bevor sie sich wieder den bunten Symbolen widmen.

Aras nimmt am Tresen Platz, gießt mir ein Glas Orangensaft ein, wie immer, wenn ich ihn im Laden besuche. Er selbst trinkt Vodka-Limo, steckt sich eine Zigarette an und isst Pistazien. Er sieht müde aus, unter seinen Augen sind tiefe Schatten. Das ist das einzige, was sich vielleicht über die Jahre verändert hat: Die Schatten, die sind größer geworden. Aras ist nicht besonders groß, hat starke, behaarte Arme und volles, dunkelbraunes Haar. Er läuft immer ein wenig geduckt. Das ist das Alter und die Arbeit, sie steckt ihm in den Knochen. Immer ist er etwas unruhig und wirbelt um sich. Kaum hat er sich auf den Barhocker gesetzt, steht er schon wieder auf, es gibt Kundschaft.

Rückblende, 1992. Aras ist 24 Jahre alt und beschließt seine Unabhängigkeit mit dem Kauf einer ehemaligen Drei-Zimmer-DDR-Wohnung am Baumschulenweg. Es ist die Wohnung eines Freundes, der kein Geld mehr hat sie zu halten. Aras nimmt das verdiente Imbiss-Geld in die Hand und wird Käufer: Aus der Ost-Wohnung entsteht Pamukkale. Damals ist er risikofreudig.

Angst als ständiger Begleiter

Als erster Dönerladen einer Straße Ost-Berlins, in den Neunzigern, das klingt nur retrospektiv besonders aufregend. Für Aras bedeutet es kämpfen, eine innere Kraft entwickeln. In den ersten Jahren ist Angst sein ständiger Begleiter. Um seinen Laden herum liegen drei rechte Kneipen. Aras muss immer damit rechnen, dass ihm irgendwann auch ein paar Nazis einen Besuch abstatten werden. Mit Baseballschlägern, nicht zum Döneressen. Nicht selten gibt es Schlägereien oder eingeworfene Fensterscheiben.

Einige Wochen nachdem Pamukkale eröffnet, erlebt Aras, was es heißt, Angst zu haben. Es ist nach Mitternacht, er steht alleine im Laden. Er hört Musik, schleift die Messer, als er einen Bus vorfahren sieht. Damals hält der Bus noch genau vor Aras Laden. Er schaut in die Nacht, blickt auf die andere Straßenseite und sieht drei Jugendliche aussteigen. Sie kommen wohl aus dem Stadion, der BfC Dynamo Berlin hat gerade gespielt, ein Verein, bekannt für seine Nazi-Fans.

Anstatt Fußballschals um den Hals zu tragen, schwenken die Jungs eine Fahne. Schwarzes Symbol auf rotem Grund: „Es ist diese Kriegsfahne gewesen“, sagt Aras. „Das Nazi-Symbol. Hakenkreuz, weißt du?“ Aras erzählt, als hätte sich die Geschichte erst gestern zu getragen, so lebhaft und detailliert. Die Jungs bewegen sich langsam auf seinen Laden zu, er, wie versteinert, überlegt, ob er eine gute Verteidigungswaffe hat, blickt in seine Hände und sieht das Dönermesser. Zeitgleich, in diesen wenigen Sekunden, sagt er, beginnt er die Idee mit dem Laden zu verfluchen: Wieso einen Dönerladen am Baumschulenweg, umringt von Nazis? Der einzige Türke im Kiez, wer macht sowas? Vor seinem Fenster angelangt, blickt Aras die drei Jungs erwartungsvoll an, wartet auf Beschimpfungen, Gewalt. Einer von ihnen tritt vor. Er sagt: „Einen Döner, bitte.“

Aras ist erleichtert, und gleichzeitig wird ihm klar: Es wird nicht einfach werden, hier im Kiez. Die Gefahr liegt immer in der Luft.

„Wir könnten die Welt verändern“

Multikulti, sagt er, ist erst über die Jahre gewachsen. Einmal kommt eine Frau in seinen Laden, mit einer Kamera in der Hand, den Mund weit offen. Mit großen Augen filmt sie das Innere von Pamukkale. In der Baumschulenstraße ist Aras mit seinem Dönerladen der Exot. Nach und nach eröffnet der zweite, dann der dritte Dönerladen am Baumschulenweg. Die Konkurrenz wächst, und damit kommt auch die Vielfältigkeit.

Über die Jahre sei es aber immerhin einfacher geworden, sagt Aras. Es gäbe jetzt Multikulti, die Menschen hätten weniger Berührungsängste: „Und außerdem sterben die Alten hier im Kiez langsam. Die mit dem rechten Gedankengut.“ Und um die Jungen, um die kümmert sich Aras.

Aras sieht sich als Integrationsbeauftragter. Aber für Deutsche. Er sagt, wenn wir alle nur ein bisschen mehr Kontakt miteinander hätten, dann könnten wir die Welt verändern. „Diese Leute, die hier bei mir Bier trinken, da an den Spielautomaten, die kennen nur rechte Gedanken. Von ihren Eltern, ihren Großeltern. Und dann treffen sie mich und denken, Memet ist ja ganz in Ordnung. Und plötzlich fangen sie an nachzudenken. Es geht um Menschen. Menschen verändern die Welt.“

Er sagt das mit einer Überzeugung, die keine Zweifel zulässt. Und doch fällt es schwer, ihm zu glauben. Denn Aras wirkt ausgebrannt, kraftlos. So als ob er sich weniger um andere und mehr um sich selbst kümmern müsste. „Dafür bin ich aber glücklich“, entgegnet er mir, „siehst du nicht, wie ich strahle?“


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