Sie nennen mich Kartoffel

Mit 13 flüchtet der Afghane Jamshid alleine nach Deutschland. Seit fünf Jahren lebt er nun hier. Die anderen Flüchtlinge aus seinem Heim nennen ihn mittlerweile „Kartoffel“.

Teheran, Juni 2010:

Ein dreizehnjähriger Junge kommt mit einer Obsttüte in der Hand durch die engen Gassen des Teheraner Bazars gelaufen. Schnell durch das quietschende Eisentor, hoch in den dritten Stock, wo er mit seiner Familie wohnt. Es ist das letzte Mal, dass Jamshid diesen vertrauten Weg laufen wird. Morgen in der Früh startet sein Bus Richtung iranisch-türkische Grenze.
Jamshid arbeitet jeden Tag nach dem Unterricht in einem kleinen Obstladen, um sich seine Schule zu finanzieren. Seine Eltern, sie gehören dem Stamm der Chasaren an, mussten aufgrund von Verfolgung aus Afghanistan in den Iran fliehen. Aber auch hier werden sie durch hohe Schulgebühren und willkürlichen Kontrollen der Polizei diskriminiert. Sie können ihren Sohn finanziell nicht unterstützen.
Jamshid hat deshalb einen Entschluss gefasst: Er möchte nach Europa. Nach Schweden, wo sein Onkel schon ist. Er wird sich allein auf den Weg machen. Es ist noch früher Morgen, als Jamshid am nächsten Tag aufbricht. Die ganze Familie ist mitgekommen, um ihn am Busterminal zu verabschieden. Mit zwei Taschen steigt er ein.Jamshid hat sich den Großteil der Fluchtkosten selbst erspart. Der Druck, der auf ihm lastet ist groß. Die Eltern wünschen sich, dass er eine gute Bildung erhält und viel Geld verdienen wird.
Jamshid mit 13Das Feld zur türkischen Grenze liegt ruhig in der Abenddämmerung. Eine Gruppe von 20 Iranern und Afghanen pirscht sich geduckt in Richtung Grenze. Das einzige, was Jamshid sieht, ist ein Wachturm. Dort oben steht ein Soldat, bewaffnet mit einem Maschinengewehr.
„Los, los, los“, flüstert einer der Männer auf dem Feld. Sie sprinten los. Schüsse fallen. Jamshid rennt. Er weiß nicht wie lange, folgt einfach den anderen. Irgendwann werden sie langsamer. Keiner fehlt. Sie haben es geschafft. Nach einigen Kilometern Fußmarsch durch die Nacht kommen sie am nächsten Parkplatz an. Hier wartet ein Bus auf sie, der durch die Türkei in Richtung Griechenland fahren wird.

München, Januar 2016:

Jamshid ist jetzt 18 und lebt seit fünf Jahren in München. Er absolviert ein FSJ in einem Kinderhort des AKA e.V. („Aktiv für interKulturellen Austausch“). Hier nennen ihn alle nur „Justin“. „Jamshid ist zu schwer, dass kann keiner aussprechen“, sagt er. Er betreut eine Gruppe von fünf Kindern bei den Hausaufgaben und in deren Freizeitgestaltung.
„Justin, darf ich ein Mandala malen?“ Jamshid: „Hast du deine Hausaufgaben gemacht? Wenn die fertig sind, darfst du!“ Heute steht Deutsch auf dem Programm. Jamshid kann häufig nicht helfen und holt einen Betreuer zur Unterstützung. „Deutsche Grammatik habe ich eigentlich erst hier so richtig gelernt.“ Er grinst. Wenn es zu laut wird, ruft er laut und bestimmt „Ruhe“. Dann wird sein junges Gesicht etwas erwachsener. Ihm macht es Spaß hier zu arbeiten. Die Arbeit erfüllt ihn mit Stolz. Wenn Jamshid durch die Gänge läuft, klirrt ein großer Schlüsselbund, der an seinem Gürtel baumelt. Damit hat er Zugang zu allen Räumen. IMG_3244Er ist die rechte Hand vom Chef, der ihm volles Vertrauen schenkt. Ein Großteil der Kinder im Hort, und alle, die bei Jamshid in der Gruppe sind, haben Migrationshintergrund. „Da habe ich einen Vorteil, weil ich die iranische und die deutsche Kultur kenne.“
Wenn die Kinder am Nachmittag den Hort verlassen muss Jamshid in sein eigenes Heim zurück. Dort wohnt er mit zehn anderen minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen. „Hier im Hort ist wenigstens immer Action! Aber das Leben in meinem Heim ist total langweilig. Die meisten sprechen kein gutes Deutsch und bleiben unter sich.“

Türkisch-griechische Grenze, Juli 2010:

Jamshid wartet mit den anderen Flüchtlingen im Schatten des Busses. Er ruft seine Mutter an. Er muss eine Entscheidung treffen. Schließt er sich der Gruppe an, die den Weg über das Meer in einem Schlauchboot wählt, oder zahlt er 1000 Euro Aufpreis und nimmt die Route, bei der nur ein kleinerer Fluss in Griechenland überquert werden muss? Für die Mutter ist klar: „Du nimmst die „trockene“ Variante.“ Die Gefahr, dass ein Schlauchboot kentert ist groß.
Nach tagelangen Strapazen kommt Jamshid in Athen an. Sein Cousin nimmt ihn bei sich auf. Alles ist neu für Jamshid. Schon bald schält sich seine Haut. Er hat einen Sonnenbrand. „In Teheran kam die Sonne nie durch den Smog durch.“ In Athen erholt er sich von der Flucht. Der nächste Bus soll ihn direkt nach Schweden bringen. Sein Cousin verhandelt auf griechisch mit dem Busfahrer. Der dreht sich zu Jamshid und deutet aufs Dach. Der einzige freie Platz ist in der Lüftung des Busses, die auf dem Dach liegt. Mit drei anderen Männern soll er sich diesen Platz teilen.

München, Februar 2016:

Jamshid hängt mit zwei Freunden in der Münchner Innenstadt ab. Dann fängt der eine an, Musik auf seinem Handy zu spielen. Hip- Hop mit elektronischem Einfluss. Der Reihe nach fangen sie an zu tanzen. Sie jerken. Ein Tanzstil, der viel Fuß und Beinarbeit erfordert, schnelle Schritte. Jamshid filmt seine Freunde dabei. Als er an der Reihe ist, gibt er das Handy an seinen Freund weiter. „Hier zoomst du, und da drückst du auf Aufnahme. Versuch nicht zu viel zu wackeln!“ Am Abend schneidet Jamshid das Video direkt auf seinem Handy, auf dem er gedreht hat. Er fügt Schriftzüge ein, setzt Überblendungen und hinterlegt das Ganze mit Musik. Dann schnell noch auf Facebook und Instagram hochladen. „Guck, mein letztes Video auf Youtube hatte schon über 1000 Klicks.“

Mit seinen Mitbewohnern im Heim hat er wenig zu tun, besonders mit den Afghanen hat er seit seiner Flucht kaum Kontakt. Die ersten drei Jahre lebte er in einem Kinderheim, wo ausschließlich deutsche Kinder untergebracht waren. Dort war er gezwungen, in kürzester Zeit Deutsch zu lernen. „Meine afghanischen Kumpel nennen mich heute Kartoffel“, sagt Jamshid. „Es war gut, dass ich schon vor fünf Jahren geflohen bin. Mit dreizehn ist das zwar hart, aber wenn ich die Situation der Flüchtlinge heute mit meiner Situation damals vergleiche…ich wurde damals super versorgt!“

Passau, Juli 2010:

Nach einer zweitägigen Fahrt, eingepfercht im Lüftungsschacht des Busses, sagt der Busfahrer den Flüchtlingen, sie seien früher in Schweden angekommen. Jamshid spaziert über den Parkplatz. Er ruft seinen Onkel in Schweden an und gibt den Hörer an einen Mann, der in der Nähe steht. Dieser gibt das Handy kurz darauf wieder zurück.
Der Onkel: „Jamshid, du bist nicht in Schweden, sondern in Deutschland!“
Auf dem Weg zurück zum Bus kommen Jamshid zwei Polizisten entgegen. Er wird festgenommen und nach München geschickt. Schweden ist für Jamshid plötzlich ganz weit weg.

München, Februar 2016:

Jamshids Handy klingelt. Es ist seine Mama. Seit zwei Tagen sind seine Eltern und Jamshids Geschwister in einem Flüchtlingslager in Hamburg. Auch sie wollten nach Schweden, doch auch sie wurden in Deutschland festgehalten. „Ich glaube das ist besser für sie“, sagt Jamshid. „Nächstes Wochenende möchte ich mit einem Bus nach Hamburg fahren. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen.“


Daniel lernte Jamshid in Folge seiner ehrenamtlichen Tätigkeit in einem Heim für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge kennen. Die Recherchearbeiten zogen sich über einen Zeitraum von einem Monat, in dem er Jamshid in seinem Alltag immer wieder begleitete und Gespräche führte. Mittlerweile wurde Jamshids Familie in eine Unterkunft nach Berlin verlegt. Sie warten noch auf ihr Verfahren.



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