Flucht ohne Zuflucht – Über den Krieg im Jemen

Korruption, Terror, Hungersnöte, viele Waffen und kein Ende der Gewalt in Sicht: der Jemen ist ein gescheiterter Staat. Welche Formen der Flucht wählen Menschen in einem Land, das weder eine realistische Fluchtroute nach Europa noch aufnahmebereite Nachbarländer hat.

Die Familie sitzt im Wohnzimmer und blickt gespannt auf das drahtlose Telefon. „Dieser Anruf kostet Sie nur 13,5 Cent pro Minute“, sagt eine weibliche Stimme am Hörer. Die Freisprechanlage ist angeschaltet, es klingelt schrill in den Raum hinein. Kurz darauf nimmt meine Tante auf der anderen Seite ab. Die andere Seite, das ist der Jemen, die Heimat meines Vaters.

Im Jemen war ich schon lange nicht mehr. Das letzte Mal 2008 nach dem Abitur. Seitdem musste ich erleben, wie das Land Stück für Stück destabilisiert wurde. Bereits vor dem aktuellen Krieg war das Land durch eine jahrelange Fehlpolitik des 2012 abgesetzten Diktators Ali Abdullah Saleh geschwächt. Während seiner 33-jährigen Herrschaft unterschlug er zwischen 32 und 60 Milliarden US-Dollar, während Teile seiner Bevölkerung zu wenig zu Essen und kein fließendes Wasser hatten. Jetzt ist der Jemen ein Schlachtfeld. Seit März 2015 liefert sich eine saudische Militärkoalition, bestehend aus neun mehrheitlich sunnitischen Staaten, heftige Gefechte mit den Huthis, einer schiitischen Miliz. Unterstützung sollen die Huthis von russischer und iranischer Seite erhalten. Bei den Saudis kommt sie aus dem Westen – insbesondere den USA, Frankreich und Großbritannien. Beide Kriegsparteien stehen im Verdacht schwerste Menschenrechtsverletzungen im Laufe der Gefechte begangen zu haben. Über 6000 Tote, davon über 2800 Zivilisten, über 7,6 Millionen Jemeniten die an Nahrungsmittelknappheit leiden: Das ist die bisherige Bilanz der UN.

KinderfotoDer Klang der Stimme meiner Tante fügt sich nicht ins Bild einer lebhaften Frau, das ich von ihr in Erinnerung habe. Wir tauschen Grußformeln aus. Ich frage nach dem Befinden von Freunden und Bekannten. Es fällt schwer über Krieg am Telefon zu sprechen. Doch noch scheint es ruhig zu sein und im Gegensatz zu anderen Teilen des Landes gibt es bis jetzt noch genug Lebensmittel.

Hadhramaut, das Gouvernat aus dem mein Vater stammt, liegt im Südosten des Landes. Mittlerweile wird es von Al-Kaida kontrolliert. Dass jetzt auch noch der sogenannte Islamische Staat (IS) versucht, seinen Einfluss in der Region auszuweiten, kann man wohl als Worst-Case-Szenario bezeichnen. In einer der letzten Ausgaben seines Propagandamagazins DABIQ kündigte der IS an, den Hadhramaut von Al-Kaida zu befreien. Schließlich würden diese mit den „abtrünnigen“ Eliten der saudischen Militärkoalition zusammenarbeiten. Dass zwei Terrorgruppen sich gegenseitig den Unglauben vorwerfen, könnte man für schwarzen Humor halten, wenn es nicht bitterer Ernst wäre.

Ich will mehr erfahren, versuche es nochmal mit allgemeinen Floskeln und frage nach dem Wohlbefinden aller: „Wie geht es der Familie? Meinen Großeltern? Meinen Cousins, Cousinen, Tanten, Onkels?“ Meine Tante beschwert sich nicht. Es heißt stets Al hamdu lillah – Gott sei Dank. Doch die Nuancierung dieser wenigen Worte lassen erahnen, dass natürlich nicht alles in Ordnung ist.

Sie erzählt von den Qubab – den kleinen Mausoleen, die man überall in muslimisch geprägten Ländern findet, so auch in asch-Schihr, der Stadt in der meine Familie lebt. Wenige Meter hohe, weiße häufig mit Ornamenten verzierte Kuppelbauten sind das, die meist zentral auf den öffentlichen Friedhöfen gelegen sind. Beerdigt sind dort muslimische Heilige: Menschen, die ein frommes Leben gelebt haben und als Gottesfreunde bezeichnet werden. Diese ästhetische Grabkultur existiert schon seit Jahrhunderten im Hadhramaut, einer der bedeutendsten Heimstätten des Sufismus, einer mystischen Strömung des Islam.

Ein Kampf um Einfluss

Für Al-Kaida sind diese Gräber Gotteslästerung und dürften deshalb dem Erdboden gleich gemacht werden . Am Vortag wurden wieder zwei Mausoleen gesprengt. Al-Kaida zerstört sie und will die Bevölkerung damit provozieren. Doch die möchte Konflikten mit den bewaffneten Extremisten aus dem Weg gehen und harrt aus. Herauszufinden wie weit die Terrorgruppe gehen kann, ist das Ziel solcher Gewaltakte. Es ist der Kampf um gesellschaftlichen Einfluss, einem Einfluss der kulturzerstörerisch über die Kontrolle von Territorium hinausgeht. Die Menschen vor Ort müssen aufpassen, was sie öffentlich kommunizieren, müssen Obacht geben, wenn sie traditionelle Lieder singen oder Tänze vorführen. Al-Kaida-Ideologen gibt es schon seit Jahren im Jemen. Bisher war ihr Einfluss auf die Gesellschaft eher gering. Das muss sich auch nicht zwangsläufig ändern, aber das innere Exil ist nicht als äußerlicher Protest sichtbar und könnte den Schein erwecken, dass die neuen Herrscher willkommen wären.

Mein Vater fragt seine Schwester, was der Hirak macht. Der Hirak ist eine säkulare Sezessionsbewegung, die die Unabhängigkeit des Südjemen nach den Grenzen vor der Vereinigung von 1990 fordert. Meine Tante sagt nur resigniert, dass einige von ihnen „die Hemden gewechselt haben“ und was sie damit meint ist, dass so manch einer zu Al-Kaida gewechselt ist. Al-Kaida biedert sich als Arbeitgeber in einer desolaten wirtschaftlichen Situation an, indem junge Menschen Wachposten besetzen. Der Pakt mit dem Teufel als Abenteuer und Dienst an der Heimat. Im Grunde genommen ist es egal, welche Motive die jungen Menschen bewegen, sich Al-Kaida anzuschließen. Sie sind dann potentielle Terroristen und es ist keineswegs auszuschließen, dass diese Personen nicht von Al-Kaida zu Anschlägen verpflichtet werden.

Noch 2013 drehten Jugendliche aus Mukalla, der Hauptstadt des Hadhramaut, eine Songparodie auf das Lied „Gangnam Style“ des Koreaners Psy. Sie wollen mit diesem Clip das kulturelle Erbe des Hadhramaut anderen näher bringen. Daneben gibt es aber auch Referenzen auf den Hirak und die Spannungen zwischen Jemeniten aus dem Norden und dem Süden des Landes. Frühling 2014 wurde noch ein Video über Streetart hochgeladen, aber mittlerweile gibt es keine Aktivitäten mehr auf dem Kanal mit dem Namen „Talente des Hadhramaut“.

Diese Euphorie, die mit dem Sturz des Präsidenten und dem Wunsch nach Unabhängigkeit des Südens einherging, ebbt mittlerweile ab – auch weil sich viele Menschen nicht mehr trauen, sich unter Al-Kaidas Herrschaft frei zu äußern. Die Angst vor dem Terror nimmt Überhand.

Im September vergangenen Jahres war ich für eine Woche im Oman, dem Nachbarland östlich vom Jemen. Ich habe Urlaub gemacht am Meer in Salalah. Der Strand sieht genauso aus, wie bei meiner Tante, die Meeresluft riecht ähnlich salzig und der Dialekt der Bewohner stimmte mich melancholisch. Die Strecke von Salalah zu meiner Familie wäre so lang wie von Hamburg nach München gewesen. Lang, aber keineswegs zu lang. Dennoch war es unmöglich und das fühlte sich unfair an. Fliehen kann man als Jemenit nicht in den Oman. Saudi-Arabien nördlich des Jemen weigert sich Kriegsflüchtlinge aufzunehmen  und wird stattdessen von Human Rights Watch beschuldigt mit Streubomben das Leid der Zivilbevölkerung noch zu verstärken.

JemenMeine Familie lebt zum Glück noch an ihrem Heimatort, aber neben Tausenden Jemeniten, die im Land an anderen Orten Schutz suchen, sind bereits über 140.000 Jemeniten nach Djibouti, Somalia und Äthiopien geflüchtet. Also in Staaten, die selbst in der Vergangenheit Bürgerkriege und politische Instabilität erlebt haben. In schwacher körperlicher und seelischer Verfassung leben sie dort in kargen Zelten. Die Flucht der Jemeniten an das Horn von Afrika zeigt einmal mehr, dass Flucht kein Ausweg, sondern oft der einzige Weg ist, zu überleben.

Bevor wir mit meiner Tante telefonierten, hat mein Vater die ganze Zeit auf sein Smartphone gestarrt. Viele Jemeniten in der Diaspora nutzen mittlerweile WhatsApp, um sich über die Lage in der Heimat auf dem Laufenden zu halten, aber auch um in Nostalgie zu schwelgen. Man schickt sich Bilder von Aden, der ehemaligen Hauptstadt des Südjemen, in den 60er Jahren und vergleicht sie bewundernd mit Genf von heute. Nach der Unabhängigkeit von den Briten 1967 war die einstige kosmopolitische Handelsnation ein Feldversuch für den Kommunismus. Mit der Vereinigung 1990, die sich für viele Menschen im Südjemen im Nachhinein eher als Eroberung und Enteignung des Südens durch den Norden anfühlte, stieg die Frustration über die fehlende Souveränität.

Foto HandDie Flucht in eine idealisierte Vergangenheit ist der wohl deutlichste Ausdruck der Ohnmacht, die Jemeniten spüren. Doch der Krieg wird auch auf humoristische Weise behandelt: ab und an schickt mir mein Vater eine Karikatur oder einmal sogar die häufig parodierte Bunkerszene aus dem Film „Der Untergang“. Hitler ist dann die Personifikation der militärischen Truppen aus dem Nordjemen und regt sich über die Separatisten im Süden auf. Doch soziale Medien und besonders WhatsApp wirken manchmal wie ein Verstärker des ohnehin schon offensichtlichen Leids der jemenitischen Bevölkerung.

Vor einigen Wochen besuchte der ehemalige Leiter eines Forschungsinstituts über Nahoststudien aus dem Jemen unser Orientalisches Institut in Leipzig. Nach langem Zögern verließ er auf Bitten seiner Familie das Land und macht nun in Deutschland auf die Geschehnisse im Jemen aufmerksam. Er argumentierte wissenschaftlich und konnte doch seine Tränen nicht zurückhalten, als er von den Bildern von Kinderleichen, zerstörten Häuserfassaden und Luftangriffen sprach, die seine Chatverläufe fluteten. Auch für Exilanten, auch für die, die bereits vor dem Krieg das Land verlassen haben, gibt es kein seelisches Entfliehen vor den Schrecken des Krieges.

Diese Chats sind auch für mich wichtig, um mit Verwandten und Freunden im Jemen in Kontakt zu bleiben. So erfahre ich beispielsweise, dass meine Cousine ihr Abitur gemacht hat und endlich studieren will und ein Freund von mir heiraten wird und sich auf Kinder freut.

Mittlerweile hat mein Vater das Gespräch während unseres Telefonats. Nur noch nebenbei verfolge ich die Unterhaltung. Seine andere Schwester hätte ein Geschwür gehabt. Die Operation musste ambulant vorgenommen werden und richtig verheilt ist die Wunde nicht, manchmal geht sie auf. Es gibt auch im Jemen Krankenhäuser. Warum man die nicht besuchen kann? Ich denke, weil es am Krieg liegt und verlasse den Raum, um in mein altes Kinderzimmer zu fliehen und nachzudenken.


Den Bogen nicht überspannen, nicht überemotional schreiben, sondern einen Einblick in die Alltäglichkeit eines Ausnahmezustandes zu gewähren: Das empfand Khaldun Al Saadi als die größte Hürde in seinem Beitrag. Der Jemen liegt ihm am Herzen und mit diesem Beitrag möchte er helfen, nicht nur für das Schicksal seiner Familie, sondern das aller Jemeniten zu sensibilisieren.


 

Fotos: Khaldun Al Saadi (1,2,4), Will De Freitas (Flickr) unter CC-BY-NC-ND 2.0


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