Anspruch und Wirklichkeit in der Flüchtlingskrise

Tausende Tote im Mittelmeer, menschenunwürdige Aufnahmelager in Europa und eine populistisch aufgeheizte Diskussion: Die Flüchtlingskrise konfrontiert Europa mit seinen eigenen Werten. Wie könnte ein gerechtes europäisches Asylsystem aussehen? Ein Essay

von Elisa Benker

Wie kann man es Menschen verübeln, dass sie sich auf dem Weg zu uns nach Europa machen, wenn sie vor Krieg und Verfolgung aus ihren Heimatländern fliehen oder es ihnen in den Flüchtlingslagern in Jordanien oder im Libanon am Nötigsten fehlt? Wäre der AfD-Politiker Björn Höcke ein syrischer Kriegsflüchtling, ein albanischer Tagelöhner oder homosexueller Marokkaner – würde er genauso gegen Flüchtlinge wettern?

Vielleicht ist es naiv heutzutage noch am Ideal einer werteorientierten Politik festzuhalten. Aber wenn wir diesen Anspruch schon aufgegeben, dann sollten wir es wenigstens konsequent tun – und in unser Grundgesetz schreiben, dass die Menschenrechte eben nicht universal gelten, sondern exklusiv sind.

Denn das ist eigentlich die Prämisse, auf der unser aktuelles Asylsystem aufbaut: Ungleichbehandlung.

Es ist die privilegierte Lebenssituation, die unsere Vorstellung von Gerechtigkeit entscheidend beeinflusst. Wir sind voreingenommen, wenn wir für uns Gerechtigkeit definieren.

Der Philosoph John Rawls hat dieses Problem durch ein Gedankenexperiment zu lösen versucht: Stellen Sie sich vor, Sie wären hinter einem Schleier des Nichtwissens, Sie würden nicht wissen, welche Position Sie in einer Gesellschaft hätten. Sie kennen weder Ihr Geschlecht, Ihre Ethnie, Ihren Status noch Ihre Fähigkeiten – wie würden Sie die Gesellschaft konzipieren? Was wäre gerecht? Rawls bezog sich explizit nicht auf die internationale, zwischenstaatliche Ebene. Aber von Rawls Gedankenexperiment ausgehend lässt sich fragen: Wie würde man wohl ein Asylsystem in einer Welt konstruieren, in der man seine eigene Position nicht kennt?

Eines scheint mir sicher, nicht so wie es derzeit ist.

Generation Schengen

Ich bin 1993 geboren, lange nach dem Zerfall der Sowjetunion. Offene Grenzen innerhalb des Schengen-Raums sind für mich normal. Kaum denkbar, dass es gar nicht lange her ist, dass man an jeder Grenze den Pass zücken musste, dass es nicht lange her ist, dass selbst innerhalb Deutschlands keine Reisefreiheit bestand.

Die Argumente der Gegner von offenen Grenzen im Deutschen Bund des 19. Jahrhundert waren ähnlich wie heute. Trotz gemeinsamer Sprache waren die Preußen den Baden fremd, die Württemberger den Bremern suspekt. Durch Grenzen wollte man sich vor der unkontrollierten Einwanderung schützen. Erst 1871 gelang die Freizügigkeit durch den Zusammenschluss zum Deutschen Reich. Der nächste Schritt folgte 1995, gut ein Jahrhundert später, mit dem Inkrafttreten des Schengen Abkommens.

Warum ließe sich diese Idee eigentlich nicht auf die ganze Welt übertragen? Mir scheint, dass solche Gedanken in vielen Diskussionen zu leichtfertig als Utopie abgetan werden. Der Widerspruch zwischen der Universalität unserer Menschenrechte und der Existenz von Grenzen wird in der Diskussion ignoriert. Offene Grenzen gelten als anarchisches, illusorisches Geschwätz.

Welt ohne Grenzen – Utopie oder Schreckensszenario?

Hansjörg Walther, Publizist und Autor, hat sich mit der Frage beschäftigt, warum Grenzen nicht als existentielles Problem wahrgenommen werden. Grenzen hält er für illegitim. Aus der Menschenrechtscharta lässt sich laut Walther ableiten, dass jeder Mensch das Recht habe, sein Leben zu verbessern. Dennoch ist der Autor nicht der Meinung, dass man Grenzen von heute auf morgen abschaffen sollte. Vielmehr definiert er eine Welt ohne Grenzen als Ideal und fordert eine schrittweise Annäherung an diesen Zustand. Ein erster Schritt wäre für ihn dabei beispielsweise die Etablierung von großangelegten Gastarbeiterprogrammen.

Weltweit offene Grenzen, das ist ein Szenario, das vielen Menschen Unbehagen bereitet. Die Furcht vor einem ungebremsten Migrationszustrom und dem Zusammenbruch unserer Sozialsysteme ist groß. Derzeit sind laut UNHCR knapp 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht: davon sind 38 Millionen Binnenflüchtlinge, also innerhalb ihres eigenen Landes, 20 Millionen sind in fremden Ländern auf der Flucht und nur die absolute Minderheit – zwei Millionen – haben bereits Asyl beantragt.

Natürlich ist kaum abzuschätzen, wie viele Menschen nach Europa kommen würden, wenn es keine Grenzen mehr gäbe. Einen Hinweis indes liefert eine Studie des Meinungsforschungsinstituts Gallup. Das überraschende Ergebnis: Die Einwohnerzahl der EU würde bei offenen Grenzen lediglich um rund ein Zehntel steigen. Das entspricht 50 Millionen Menschen.

Entgegen der weitläufigen Annahme hätte die Zuwanderung sogar ökonomische Vorteile. Unter den Wirtschaftswissenschaftler herrscht dabei international weitgehender Konsens, dass Migration einen positiven Einfluss auf die Wirtschaftslage eines Landes hat. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung bestätigt, dass Deutsche mit Migrationshintergrund im Durchschnitt rund 3000 Euro mehr Steuern zahlen als sie an Sozialgeldern erhalten.

Ein zerrüttetes Europa

Blickt man derweil durch die europäische Medienlandschaft, zeichnet sich ein düsteres Bild ab. Die Diskussion ist geprägt von praktischen Fragen des Grenzschutzes. Normative Fragen rücken in den Hintergrund. Die aktuelle Krise hat Europa tief gespalten.

Auf der einen Seite sind die Verweigerer, bei denen sich besonders Polen und Ungarn hervortun. Für sie reicht es jetzt: genug Flüchtlinge, genug Verordnungen und Fremdbestimmung aus Brüssel. Sie wollen zurück zum starken Nationalstaat, der seine Grenzen notfalls auch mit Gewalt verteidigt. Auf der anderen Seite stehen EU-Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Österreich und Schweden, die Flüchtlinge aufnehmen wollen und an die Vernunft ihrer europäischen Partner appellieren möchten sich für ein gerechtes Verteilungssystem einzusetzen.

Die vermeintlich leichte Kategorisierung trügt. Durch sie entsteht der Eindruck, dass Deutschland schon immer für ein gerechteres Verteilungssystem eingetreten ist. Doch bis 2015 war es insbesondere die deutsche Regierung, die alles daran gesetzt hat jedwede Verbesserung des Dublin-Systems abzuwenden. Marei Pelzer, rechtspolitische Sprecherin der Hilfsorganisation Pro Asyl spricht von einer „massiven Verteidigung des Dublin Systems bis 2015“.

Bis auf einen kurzen Vorstoß im Jahr 1993, als viele Menschen aus den ehemaligen Jugoslawien in Deutschland Zuflucht suchten, hat sich die Bundesregierung nicht für eine Umverteilung eingesetzt. Ganz im Gegenteil: Deutschland war zufrieden mit der ungerechten Verteilung. Lampedusa – so sagte es der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) kurz nachdem mehrere hundert Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen waren – sei ein Problem der Italiener. Entsprechend des Dublin Abkommens müssten die Flüchtlinge in jenem europäischen Land versorgt werden, in dem sie ankommen, forderte Friedrich.

Es ist also heuchlerisch, dass Deutschland anderen Mitgliedsstaaten der europäischen Union jetzt fehlende Solidarität vorwirft – wo man in den vergangenen Jahrzehnten selbst kaum solidarisch agierte.

Und es ist auch ein Charakteristikum einer ad-hoc-Politik, die Probleme erst ernstnimmt, wenn es zu spät ist. Das zeigte zuletzt auch die mangelhafte finanzielle Unterstützung des Welternährungsprograms. 2015 warnte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, dass mehr als die Hälfte des Geldes fehle, das für die grundlegende Versorgung der Menschen in den Flüchtlingslagern benötigt wird. So standen statt 30 US-Dollar pro Person pro Tag nur etwa 15 Dollar zur Verfügung. Neben vielen anderen Ländern hatte auch Deutschland seine finanziellen Versprechungen nicht in die Tat umgesetzt.

Es war danach nur eine Frage der Zeit, dass sich noch mehr Menschen auf den gefährlichen Weg nach Europa machen würden. Der Sommer 2015 also war programmiert, er hätte niemanden überraschen dürfen.

Die Folgen bekommt Deutschland jetzt zu spüren. Die Diskussion ist vergiftet. Wenn der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sich mit rechten Autokraten wie Wladimir Putin zum Kaffee trifft, die AfD-Politikerin Beatrix von Storch Schüsse für Flüchtlinge für sinnvoll hält und der grüne Bürgermeister Boris Palmer Angela Merkels Flüchtlingspolitik im Spiegel als Ponyhofpolitik diffamiert, dann läuft etwas gehörig falsch in diesem Land.

Offene, ehrliche und wertorientierte Politik

Es ist daher Zeit für eine offene und ehrliche Politik. Eine Politik, die zu ihren Werten steht. Während man es in der Vergangenheit versäumt hat, eine gelungene Integration zu ermöglichen, sollte man es dieses Mal besser machen. Die Voraussetzungen dafür sind da: Deutschland ist im europäischen Vergleich wirtschaftlich in einer hervorragenden Lage. Woran es noch mangelt sind die Strukturen.

Wir müssen nun alles daransetzen, diese schnell aufzubauen um wieder Vertrauen in sie zu schaffen und so Integration zu ermöglichen. Auf europäischer Ebene sollte sich Deutschland endlich für eine gerechte Verteilung der Flüchtenden und ein gemeinsames Asyl- und Migrationssystem einsetzen.

Von weltweit offenen Grenzen sind wir noch weit entfernt. Aber wenn wir Mal ehrlich sind: Wäre das nicht die Welt, die unser menschenrechtlicher Wertanspruch eigentlich von uns fordert?


Elisa Benker beschäftigt schon lange die Frage, wie Grenzen sich eigentlich legitimieren lassen. Bei ihrer Recherche hat sie verschiedene Experten zu Gesprächen getroffen: zwei Dozenten der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Dr. Oliver Hidalgo und Danielle Gluns, zudem telefonierte Benker mit Marei Pelzer, der rechtspolitischen Referentin von Pro Asyl und mit Stefan Keßler, Referent für Politik und Recht vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland.


 

Foto: Leonhard Simon. All rights reserved.


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