Straßenzeitungen inmitten der Medienkrise

Für vielen Menschen ist die einzige Möglichkeit, nicht betteln zu müssen, eine Straßenzeitung zu verkaufen. 36 solcher Zeitungen gibt es in Deutschland. Wie geht es ihnen in Zeiten des Zeitungssterbens?

von Cem Bozdogan

Marina Schmidt steht oft am U-Bahnhof Berlin-Lichtenberg, mit ihrer knallroten Jacken und ihren weißen Haaren fällt sie auf. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, kommen Sie gut nach Hause!“, ruft Schmidt den Menschen zu, die den U-Bahnhof verlassen oder betreten. In Wirklichkeit heißt Marina Schmidt anders, ihren echten Namen möchte sie nicht verraten. Sie steht jeden Tag am U-Bahnhof und verkauft die Straßenzeitung „strassenfeger“, von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends.

Bei den großen Zeitungen wird immer von der Medienkrise gesprochen: die Auflagen sinken, die Gewinne minimieren sich, die Konkurrenz steigt. Straßenzeitungen sind davon nicht betroffen, ihre Auflagen bleiben stabil. Die Straßenzeitung „BISS“ aus München ist eine von 36 Straßenzeitungen in Deutschland. Die „BISS“ kann ihre Auflagen sogar leicht vermehren, momentan liegt sie bei 38.000, der Betriebs- und Vertriebsleiters Johannes Benninger rechnet im nächsten Jahr mit einer Auflage von 40.000.

Auflagen steigen

Straßenzeitungen gelten als soziale Projekte. Sie verfolgen in erster Linie nicht das Ziel, den Gewinn oder die Auflagen zu maximieren. Dazu haben viele Straßenzeitungen ein zweites Standbein, etwa Trödelläden oder Antiquariate, die durch Spenden finanziert werden. Vielmehr sollen obdachlose und arme Menschen vorm würdelosen Betteln geschützt werden und ihr eigenes Geld verdienen. Straßenzeitungen arbeiten nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“, dadurch stärkt sich das Selbstbewusstsein der Verkäufer.

Bei „BISS“ ist die Situation anders. Während beim „strassenfeger“ in Berlin jeder arme oder obdachlose Mensch Zeitungen verkaufen kann, stellt „BISS“ Verkäufer fest ein. Diese Verkäufer sind nicht obdachlos. Unter den Straßenzeitungen sei der „BISS“ demnach mehr Unternehmen als Projekt, sagt Benninger. Das ist besonders günstig für das Unternehmen in Zeiten der Medienkrise: Weil sie die einzige Straßenzeitung im Raum München ist, kann sie ihre Auflage leichter vermehren.

Im Raum Berlin und Brandenburg existieren neben dem „strassenfeger“ auch die „Motz“ oder das „StreetJournal“. Rund 850 Verkäuferinnen und Verkäufer verdienen sich ihr Geld mit dem „strassenfegers“. Sie hat eine Auflage von 17.000 Zeitungen alle vier Wochen und gehört mit den Zeitungen in Hamburg, München und Düsseldorf zu den erfolgreichsten Straßenzeitungen Deutschlands. Als Konkurrenten sehen sich „strassenfeger“ und „Motz“ nicht, sagt eine Redakteurin des „strassenfegers“, die anonym bleiben will. „Die Kunden sollen selbst entscheiden, welche Zeitung sie besser finden.“ Dennoch käme es häufig vor, dass sich mehrere Verkäufer am selben Platz träfen und um die Käufer konkurrierten. „Aber wir sind die besseren“, sagt die „strassenfeger“-Redakteurin.

Straßenzeitungen in Deutschland

Zur Zahl der Obdachlosen in Deutschland existieren keine offiziellen Statistiken, nur Schätzungen. Laut Wohlfahrtsverbände gibt es in Deutschland etwa 860.000 Obdachlose. Dabei fällt auf, dass Kommunen die Zahl niedriger schätzen. Der Berliner Senat geht von 2.000-4.000 Obdachlosen in der Bundeshauptstadt aus. Hilfsverbände sind der Meinung, die Zahl liege im fünfstelligen Bereich. Die Stadt Düsseldorf geht von etwa 300 Obdachlosen aus, laut der gemeinnützigen Organisation „fiftyfifty“ sind es jedoch um die 1.000.

Die Verkäufer haben alle Eines gemeinsam: „Sie sind arm oder schlafen in Notunterkünften, andere bekommen Hartz IV und sind kurz vor dem Wohnungsrausschmiss“, sagt ein Sozialarbeiter der Straßenzeitung „fiftyfifty“ in Düsseldorf. Marina Schmidt kann mit dem Verkauf von Straßenzeitungen leben. „Ich kann mir mit dem Verdienst wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag leisten“, sagt die 47-Jährige. Wenn es die Zeitung nicht gäbe, würde ihre einzige Möglichkeit entfallen, Geld zu verdienen. Sozialarbeiter der Straßenzeitung „fitftyfifty“ in Düsseldorf beobachten auch, dass der Verkauf von Straßenzeitungen den Obdachlosen materiell und ideell hilft: „Neben Geld kriegen sie Beschäftigung und einen festen Tagesablauf, welchen sie brauchen.“

Die Printkrise trifft die Straßen- und Obdachlosenzeitungen nicht generell. Das liegt oftmals an der Tatsache, dass sie regional aufgeteilt sind und nicht miteinander konkurrieren müssen. Dennoch gibt es Menschen, denen es schwer fällt, eine Zeitung zu verkaufen. Verkäufer auf den Straßen werden ignoriert und nicht gehört. Marina Schmidt steht trotzdem am U-Bahnhof Berlin-Lichtenberg. „Ich möchte zeigen, dass es mich noch gibt.“


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