Soziale Ungleichheit – Made in Germany

Oft heißt es, in keinem anderen EU-Land seien Vermögen und Einkommen so ungleich verteilt wie in Deutschland. Einzig: Dieses absolute Urteil geben die Zahlen nicht her. Eine Vorreiterrolle hat Deutschland in Bezug auf Gleichheit aber auch nicht. Woran liegt das? Und ist Gleichheit in einer Gesellschaft überhaupt erstrebenswert?

von Joanna Nogly

Das Bedürfnis nach Gleichheit ist intuitiv. Wenn vier Kinder einen Kuchen gerecht untereinander aufteilen sollen, so werden sie ihn in vier gleichgroße Stücke schneiden, sagt der Philosoph Ernst Tugendhat. Ungleichheit erscheint uns erklärungsbedürftig: Beim Kindergeburtstag kann sie Familiendramen auslösen. Es liegt nahe, dass sie auch in einer Gesellschaft zu Spannungen führt. Dann sprechen wir von sozialer Ungleichheit.

Wer verstehen möchte, wie sich soziale Ungleichheit hierzulande in den vergangenen Jahren entwickelt hat, stößt schnell auf den Gini-Koeffizienten. Er gibt die Verteilung des Vermögens in einem Land an und ist in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren leicht gestiegen. Das heißt, dass die Ungleichverteilung größer geworden ist.

Die Ungleichheit in Deutschland

Die privaten Haushalte in Deutschland besitzen ein Nettovermögen von 6,3 Billionen Euro. Es ist seit den 1950er Jahren kontinuierlich gewachsen, bis 2000 allein um das Siebenfache. Aber wer profitierte davon? Die Tendenz: Immer weniger Menschen besitzen einen immer größeren Anteil des Vermögens. Fast ein Drittel der Deutschen hatte 2012 gar kein Vermögen oder sogar Schulden. Die Armutsquote ist seit 2005 um 0,5 Prozentpunkte gestiegen. Insgesamt wurde Deutschland in den vergangenen Jahrzenten also immer reicher. Die Anzahl der Armen ist aber gestiegen und ihre Situation prekärer geworden.

Stimmt es, dass Deutschland bezüglich der Ungleichheit im internationalen Vergleich besonders schlecht abschneidet? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Die Zahlen fallen anders aus, je nachdem, welche Werte genau betrachtet werden – Einkommen oder Vermögen, pro Kopf oder pro Haushalt, Zahlen der Vereinten Nationen oder nationaler Statistik-Ämter. Außerdem, so der Berliner Politikwissenschaftler Hermann Adam, sei die Einkommensverteilung und ihre Entwicklung in der Bundesrepublik statistisch in der Vergangenheit nicht gut erfasst worden. Das macht die Bewertung schwierig.

Eines scheint jedoch klar zu sein: Deutschland kann international kaum als Vorbild für Gleichheit gelten und landet bestenfalls im Mittelfeld. Länder wie Singapur, die USA aber auch Portugal oder Großbritannien schneiden oft noch schlechter ab. Schweden, Norwegen, Dänemark oder Japan hingegen stehen bei der Gleichverteilung besser da als Deutschland.

Doch woran liegt das? Die Ungleichverteilung in einem Land hängt eng mit der Entwicklung der Löhne, Arbeitsverhältnisse und Steuerregelungen zusammen. Und diese werden durch die Politik beeinflusst. Während zu Zeiten des „Wirtschaftswunders“ in den 1950er und 60er Jahren fast jede Bevölkerungsschicht aufgrund der Vollbeschäftigung vom wachsenden Wohlstand profitierte, hat sich dieser Trend seit den 1980er Jahren umgedreht. Das stetig steigende Vermögen kam hauptsächlich einer kleinen Elite zugute. Einen Grund dafür sieht Politikwissenschaftler Adam in der demografischen Entwicklung der BRD. Die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegsjahre fluteten den Arbeitsmarkt was zu Massenarbeitslosigkeit führte: „Seit den 1980er Jahren öffnete sich die Schere zwischen Arm und Reich.“

Median

Der Median bestimmt das Einkommen der Person, die genau in der Mitte der betrachteten Gruppe steht, wenn man sie nach der Höhe ihres Vermögens sortiert. Die Anzahl der Personen, die mehr und weniger besitzen ist gleich. Vorteil gegenüber dem Durchschnittseinkommen ist, dass einzelne Ausreißer wie Multimillionäre weniger ins Gewicht fallen. Beim Durchschnitt werden alle Vermögen aufaddiert und durch die Anzahl der Person geteilt. Der Median lag in Deutschland 2012 bei 17.000 Euro. Weit weniger als der Durchschnitt. Der betrug 94.000 Euro.

Zwischen 2000 und 2008 konnten die obersten zehn Prozent ihr Einkommen um 13 Prozent steigern, während die Einkommen der unteren 50 Prozent um fünf Prozent zurückgingen – und das, obwohl die Arbeitslosenquote im selben Zeitraum um zwei Prozentpunkte sank. Wie kommt es, dass die Reichen mehr vom wachsenden Wohlstand profitieren und die Armen praktisch gar nicht? Auch hier lassen sich Antworten bei der Politik finden.

Der deutsche Spitzensteuersatz blieb zwischen 1965 und 1989 konstant bei 56 Prozent. Ab 1989 ist er dann kontinuierlich gesunken. Derzeit liegt er bei 41 Prozent. Das heißt, die mit dem höchsten Einkommen mussten immer weniger davon abgeben. Seit 1984 ist außerdem laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Anzahl der Mini-Jobber und Angestellten in Teilzeit von drei auf mehr als acht Millionen Beschäftigte gestiegen. Als Hauptgrund für die Ungleichheit in Deutschland gilt auch die Agenda-2010-Reform. Die Rot-Grüne Regierung unter Schröder förderte die Leiharbeit und lockerte den Kündigungsschutz. Das führte zu mehr prekären Arbeitsverhältnissen. Es gibt zwar weniger Arbeitslose, immer mehr Beschäftigte können von ihrem Einkommen aber nicht mehr leben. Dazu trägt auch bei, dass Zwischen 1990 und 2011 der Prozentsatz derer, die nach einem Tarifvertrag bezahlt werden, von 72 auf 62 Prozent gesunken ist.

Topmanager bedienen sich

Gleichzeitig schnellten die Einkommen der Wirtschaftselite, hauptsächlich die der Topmanager, in schwindelerregende Höhen. Während 1985 das Verhältnis der Vorstandsgehälter deutscher Aktiengesellschaften zur durchschnittlichen Vergütung ihrer Arbeitnehmer noch bei 20:1 lag, erreichte es 2011 bereits 200:1. Mit einem Jahresgehalt von 17.456 Millionen Euro führte 2011 der VW-Vorstandsvorsitzende Winterkorn die Liste der Spitzenverdiener an. Und diese Einkommen werden dann gerne an der Steuer vorbeigeschleust. Der kürzlich verstorbene Historiker Hans-Ulrich Wehler konstatiert in seinem 2013 erschienenen Buch „Die Neue Umverteilung – Soziale Ungleichheit in Deutschland“ eine „politisch fleißig kultivierte Scheu, Reichtum korrekt zur Besteuerung vorzulegen“. Scharf kritisierte er auch, dass Reiche in der Bundesrepublik von der Steuerpolitik profitieren. Deutschland sei eines der wenigen westlichen Länder, „das sich den Luxus eines völligen Verzichts auf die Vermögenssteuer“ erlaube.

Warum Gleichheit?

Da es aber in Deutschland keine absolute Armut gibt, ist die Frage durchaus legitim, warum eine Gleichverteilung überhaupt erstrebenswert ist. Gibt es gute Gründe, jedem Kind ein gleichgroßes Stück Kuchen zu geben?

Kritiker der Gleichheit werfen deren Befürwortern schlicht Neid vor oder weisen auf mögliche Vorteile der Ungleichverteilung hin: Ansporn für mehr Leistung zum Beispiel. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln relativiert die Ungleichverteilung in Deutschland: „Das grundsätzliche Ziel einer Umverteilung von oben nach unten wird erreicht.“

Wann sprechen wir von Armut?

Absolute Armut, so die Vereinten Nationen, liegt vor, wenn eine Person weniger hat als 1,25 US-Dollar pro Tag, das sind knapp 30 Euro im Monat. Diese Definition trifft auf ein Sechstel der Weltbevölkerung zu, in Deutschland und den meisten anderen „Industrienationen“ kommt absolute Armut aber quasi nicht mehr vor.
Armut wird in diesen Ländern in Relation gesehen: Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median: siehe Infokasten) zur Verfügung hat, gilt laut Europäischer Union als armutsgefährdet. 2013 fiel in Deutschland in diese Gruppe jeder, der weniger als rund 980 Euro pro Monat zur Verfügung hatte. Fast 25 Prozent der Bevölkerung galt 2013 als armutsgefährdet. Nach staatlichen Sozialleistungen waren es sind es noch 16,1 Prozent. Deutschland liegt damit im Mittelfeld der EU.

Ob das ausreiche, müsse im gesellschaftlichen Diskurs entschieden werden, so der Wirtschaftswissenschaftler. Dass eine Gleichverteilung aber tatsächlich besser für Gesellschaften ist, geht aus dem 2009 von den britischen Wissenschaftlern Richard Wilkinson und Kate Pickett veröffentlichten Buch „Gleichheit ist Glück“ hervor. Nach der Auswertung zahlreicher wissenschaftlicher Studien kommen sie zum Schluss: es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und sozialen Problemen. Je ungleicher die Gesellschaft desto schärfer soziale Probleme wie Kriminalität, psychische und physische Erkrankungen oder schlechte schulische Leistungen. Und zwar in allen Schichten.

Je gleicher wiederum Vermögen und Einkommen in einer Gesellschaft verteilt sind, desto gesünder, zufriedener und länger leben alle Mitglieder – sowohl die am oberen, als auch am unteren Rand. Die Entwicklung der Gesellschaft hin zu einer gleicheren ist also, so die Autoren, „ein Projekt, das im Interesse aller Bürger liegt.“ Insofern ist es durchaus gerechtfertigt, sich auch in Deutschland nicht darauf auszuruhen, dass es hier niemandem „richtig schlecht“ geht. Länder wie Schweden, Japan oder Norwegen haben es Deutschland bereits vorgemacht. Ungleichheit macht einfach schlechte Laune. Das ist in einer Gesellschaft nicht anders als beim Kindergeburtstag.

 


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