Zurück auf Null

Das Bild syrischer Geflüchteter in Deutschland ist geprägt von jungen Männern. Doch auch ältere Menschen treten die Flucht an. Wie ist es mit 60 Jahren von vorne anzufangen, eine ganz neue Sprache zu lernen? Ahmed Naji erzählt.

von Anai Ahrens

Ein Dienstag Mittag im Frühling, Volkshochschule Kreuzberg in der Wassertorstraße, Raum 203. Tische stehen im Halbkreis, an den Wänden hängen Plakate mit Grammatikregeln. Vorne sitzt die Lehrerin, im Raum verteilt sechs Schüler*innen. Sie kommen aus Frankreich, den USA, Niger, Iran, Indien und Syrien. Einer von ihnen fällt auf. Er sieht alt aus, trägt kariertes Hemd, gesteckt in eine hochgezogene Cordhose. Graue Strähnen ziehen sich durch sein Haar, seinen Bart. Das ist Ahmed Naji.

Vielleicht ist Naji sogar der älteste Schüler Kreuzbergs. Der Syrer ist 60 Jahre alt. Er dachte, er hätte das Wichtigste in seinem Leben gelernt. Doch jetzt muss er nochmal ganz von vorn anfangen, neu lernen sich in der Welt zurechtzufinden. Wie ist das, sich ein neues Leben aufzubauen, wenn das Leben eigentlich langsam zu Ende geht? Als Großvater plötzlich wieder auf der Schulbank zu sitzen wie das eigene Enkelkind? Wer Ahmed Naji begleitet, lernt viel über Fleiß und über einen langen Atem, aber auch über Hoffnung.

Übung, Übung, Übung

Naji sitzt leicht gekrümmt auf seinem Stuhl, die Füße unter dem Stuhl verhakt. Über den Rand seiner Lesebrille schaut er zu seinen Mitschüler*innen. Thema der Stunde ist „Deutsche Gewohnheiten“: Ruhezeiten, Alkoholkonsum, Begrüßungen, Pünktlichkeit. Beim stillen Lesen formt Naji die Wörter mit den Lippen, flüstert kaum hörbar. Wenn er spricht, hat er ein verlegenes Lächeln auf dem Gesicht.

In Berlin lebt Naji seit 2014. Er ist alleine, ohne seine Frau und fünf Töchter aus seiner Heimatstadt an der syrisch-libanesischen Grenze in den Libanon geflüchtet. Im März 2015 bekam er über die deutsche Botschaft in Beirut eine Einladung seiner seit 30 Jahren in Deutschland lebenden Schwester und konnte nach Berlin fliegen. Seitdem lebt er hier, in Friedrichshain-Kreuzberg. Und hier findet auch sein Leben statt: Hier geht er zur Volkshochschule, in die Moschee, zum Sprachkurs in der Kirche, zur privaten Sprachhilfe, in den Park, ins Café.

Wie schwer es ist, eine neue Sprache im hohen Alter zu lernen, kann man an Naji sehen. Er spricht langsam, macht zwischen den Wörtern lange Pausen. Zwischendurch bricht er Sätze ab, wenn ihm Wörter einfach nicht einfallen wollen oder er sich verhaspelt. Das frustriert ihn sichtlich. Aber dann sammelt er sich, grinst sein typisches Lächeln und spricht weiter. Naji nimmt jede Möglichkeit zum Deutsch lernen wahr, die er bekommen kann. Denn er müsse lernen auch auf Deutsch zu denken, sagt er, und dafür helfe nur Übung, Übung, Übung.

Von Unfall zu Unfall

In Berlin lebt Naji bei seiner Schwester auf dem Sofa, ohne einen eigenen Rückzugsraum. Die Wohnungssuche gestaltet sich mit Hartz IV und brüchigem Deutsch schwierig. In Syrien war das anders. Jahrelang hatte er einen guten Job als Ingenieur für Heizung und Solarenergie, sie besaßen ein Haus in ihrer Heimatstadt Yabrud und eine Wohnung in der Nähe von Damaskus, die er für seine drei studierenden Töchter gekauft hatte.

Doch dann kam der Krieg. In den letzten fünf Jahren fühte ihr Leben von Unfall zu Unfall, sagt Naji. Den Zeitraum zwischen 2012 und 2014, die Zeit der Kämpfe des Regimes gegen die Opposition in seiner Heimat bezeichnet Naji immer wieder als „die schreckliche Zeit“. Im Winter 2013, als die Kämpfe besonders schlimm wurden, flohen fast alle Bewohner*innen aus der Stadt. Seine jüngste Tochter war zu dieser Zeit zehn Jahre alt. Najis Augen werden glasig, er muss schlucken als er erzählt, dass viele Kinder wegen der ständigen Angst, dem ständigen Stress „psychisch krank und krank im Herzen“ sind. Wie der Großteil der Bevölkerung verließ auch seine Familie einige Tage nach Weihnachten ihr Haus, Naji aber kam zurück, um sich um das Haus und die Habseligkeiten zu kümmern und weil sein sturer Vater sich geweigert hatte, die Stadt zu verlassen. In dieser Zeit konnte man kaum schlafen, erzählt er. In jeder Nacht gab es drei bis vier Attacken. Er schildert, wie er unter der Treppe geschlafen – oder versucht zu schlafen – hat, da es dort am sichersten war.

Es ist deutlich zu spüren, wie eng verbunden Naji mit seiner Heimatstadt ist. Er erzählt liebevoll von seinem Haus der Kindheit: Wie seine acht Geschwister und er immer die Aprikosen von den Bäumen auf dem Feld hinterm Haus gegessen, an dem kleinen Bach gespielt und sich um die Schafe gekümmert haben.

Erst als es im Januar 2014 wirklich brenzlig wurde und es nicht mehr anders ging, verließ er die Stadt und folgte seiner Familie. Der Weg war gefährlich, und er musste nachts fahren, ohne Licht. Er spricht ruhig und bedacht, doch im Schoß fummelt seine rechte Hand am linken Handgelenk herum, dreht die Uhr hin und her, spielt mit der Brille in seinen Händen. Erst als das Regime ihre Stadt übernommen hatte und die Kampfhandlungen beendet waren, kehrte er mit seiner Frau und Tochter zurück nach Yabrud. Doch als er einen Brief von der Polizei bekommt und vorgeladen wird, ist ihm klar, dass er das Land verlassen muss. „Denn wenn man erst einmal zur Polizei geht, dann kommt man nicht zurück“. Was genau Naji fürchtete, weiß man nicht, er will darüber nicht reden, druckst herum. Überhaupt ist es Naji bei vielen Themen unangenehm, darüber zu sprechen. Immer noch hat er Angst vor möglichen Konsequenzen. Auch seinen echten Namen möchte er lieber nicht in der Zeitung lesen.

Schwieriger Start

Najis erste vier Monate in Deutschland waren besonders schwer. Er ging davon aus, nicht lange zu bleiben, sondern bald in die Türkei gehen zu können. Also lernte er kaum Deutsch. Nach einer kurzen Reise in die Türkei war ihm zwar klar, dass Deutschland der sicherste und beste Ort für ihn sei, aber er hatte das Gefühl, die Sprache niemals lernen zu können. Er erzählt, dass er manchmal die Bücher wütend und frustriert durch den Raum warf.

Außerdem war er verschuldet, hatte eine lange Zeit aber keine Arbeitserlaubnis. Er fing unter der Hand bei einer arabischen Bäckerei im Süden Berlins zu arbeiten. Aber auch hier bekam Naji sein Alter zu spüren. Die körperliche Belastung von acht Stunden Arbeit am Stück mit nur kurzen Pausen und dem vielen Stehen waren einfach zu viel für den nicht mehr jungen Körper. Dann bat er offiziell um Asyl, das ihm schließlich gewährt wurde. Nun kann er Deutsch an der Volkshochschule lernen, um eine gute Arbeit zu finden und sich eine Zukunft für seine Familie aufzubauen.

Alles für die Familie

Von seiner Familie getrennt zu sein, macht die Situation für Naji besonders schwierig. Den Antrag auf Familiennachzug hat er vor acht Monaten gestellt, jetzt heißt es warten. Naji telefoniert fast täglich mit seiner Frau und wenn es ein paar Tage nicht klappt, ist die Sorge groß. „Man weiß nie, ob und was passiert ist“, sagt er. Den Kontakt hält er über Facebook und Whatsapp. Er holt sein Handy heraus und zeigt mir die Whatsapp-Gesprächsgruppe der Familie. Er schiebt sich die Brille tiefer auf die Nase und blickt von weitem auf das Smartphone. Auf dem Bildschirm steht „My familiy, My love“, dazwischen Smileys mit Herzchenaugen.

Najis Leben hier ist geprägt von einer Art schlechtem Gewissen. Er erzählt etwa, dass er in der Anfangszeit in Berlin das Gefühl hatte, keinen Spaß haben zu dürfen und nichts konsumieren zu dürfen, weil seine Töchter und Frau all das eben nicht so tun können wie er. Wenn er zum Beispiel mit seiner Schwester im RingCenter am Frankfurter Tor war, um zu Shoppen, konnte er sich einfach nicht gut dabei fühlen. Das ist zwar etwas besser geworden, doch von seinem Hartz-IV-Satz kauft er sich selbst immer noch nur das Allernötigste und schickt so viel wie möglich nach Hause.

Ich lerne jetzt wie eine Schnecke“

Die erste deutsche Sprachschule die Naji in Berlin besuchte, stellte ihn auf eine ungeahnte Probe: Sowohl die Lehrerin, als auch der Großteil der Schüler*innen waren Russ*innen und sprachen immer wieder russisch untereinander. Neben Arabisch und Englisch spricht Naji auch Russisch, war er doch schließlich sechs Jahre zum Studieren in der Sowjetunion. „Eine neue Sprache und Schrift zu lernen war damals, als junger Mann kein Problem.“ Jetzt steht das Russische ihm beim Deutschlernen im Weg, immer wieder verwechselt er Buchstaben. Und in seinem Alter ist das Lerntempo im Vergleich zu damals einfach ein ganz anderes. „Ich lerne jetzt wie eine Schnecke.“

Gerade am Anfang löste diese Sprachschule also eine große Verwirrung in seinem Kopf aus, erzählt er. Deswegen wechselte er in die Volkshochschule Frankfurter Allee. Auch hier hatte er das Gefühl, dass ihm sein fortgeschrittenes Alter im Weg steht, denn die Lautstärke machte es ihm sehr schwer sich zu konzentrieren. Also wechselte er wieder, und landete in der Volkshochschule Kreuzberg. Hier fühlt er sich wohl. Wenn seinen Sprachkurs der Stufe B1 in einigen Wochen endet, möchte er sich sofort zum B2-Kurs anmelden.

Obwohl der Anfang schwer und frustrierend war, hat Naji sich inzwischen mit dem Deutschen angefreundet, denn „jede Sprache hat schöne Sachen, die andere Sprachen nicht haben“. Plötzlich fängt er an, deutsche Kinderlieder zu rezitieren. Es ist kein wirkliches Singen, mehr ein melodischen Aufsagen. Erst „Backe backe Kuchen“, dann „Hänschen klein“. Dann sogar den „Erlkönig“. Obwohl die Sprache in diesen Texten nicht unbedingt einfache oder nützliche Alltagssprache ist, gefalle ihm die Bedeutung dahinter.

„Backe Backe Kuchen“ kenne er von seiner großen Schwester. Sie kam vor 40 Jahren zum Studieren nach Deutschland und brachte eine Puppe mit nach Syrien zurück, die singen konnte: Nur dieses eine Lied, „Backe Backe Kuchen“. Naji weint, als er die Geschichte erzählt. Als er dann hier, beim Sprachkurs in der Flüchtlingskirche dieses Lied hörte, das er schon seit so langer Zeit kennt, habe ihn das sehr berührt. Es erinnert ihn an seine Kindheit und sein Zuhause, er fühle sich einsam, wenn er es hört, sagt er – und gleichzeitig tröste ihn das Lied auch ein wenig.

Foto: Anai Ahrens


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