Helfen mit Nebenwirkungen

Seit dem Flüchtlingssommer 2015 engagiert sich in Deutschland jeder Zehnte ehrenamtlich für Flüchtlinge. Dabei bräuchten viele der Helfer selbst Hilfe, weil sie sich oft überfordern. Auch der Flüchtlingshelfer Serkan Eren kommt oft an seine Grenzen.

von Sophie Rebmann

„Eigentlich rauche ich total wenig“, sagt Serkan Eren am Ende unseres Gesprächs. Vier Zigaretten hat er da schon hinter sich – und eine lange Erzählung über sein Engagement für Flüchtlinge. „Aber bei solchen schwierigen Themen brauche ich Zigaretten.“ Deswegen auch das Treffen in der Raucherkneipe: Marshall-Bar heißt das Stuttgarter Café mit schummrigem Licht und dunklen Holztischen. Den Rücken zur Wand sitzt Eren über einem Minztee, Handy und Zigarettenpackung auf dem Tisch.

Serkan Eren arbeitet vormittags als Lehrer für Erdkunde, Wirtschaft und Sport, aber das ist nur die halbe Geschichte. In seiner freien Zeit und in den Ferien hilft er Flüchtlingen in der Türkei. Je länger er das macht, desto größer wird das Engagement und die Verantwortung. Inzwischen hängen von der Hilfe seines Vereins, der „Balkan Route Stuttgart“ heißt, 6.000 Menschen ab, sagt er. Für sie sammelt er mit Freunden und Freiwilligen in Stuttgart Sachspenden, die in die Türkei gebracht werden.

Seit eineinhalb Jahren geht das schon so. Und seit eineinhalb Jahren vergeht für den Helfer keine Nacht ohne Alpträume, kein Tag, an dem er nicht Bilder von frierenden, hungrigen, dreckigen oder verletzten Kindern und ihren Eltern im Kopf hat. „Wenn ich mal wieder eine Nacht lang durchschlafen könnte, das wäre ein Traum“, sagt er. Eren ist einer der unzähligen Ehrenamtlichen, die anderen helfen und dabei ihre eigenen Grenze nicht sehen.

Von der Spontanaktion zum Verein 

„Richtig krass“, sagt der 33-Jährige, habe er die Berichte der Tagesschau über Kinder und Jugendliche gefunden, die in Slowenien und Kroatien auf der Straße schliefen. Also beschloss er, selbst aktiv zu werden: Ein langes Wochenende stand an, Eren hatte frei und wollte auf den Balkan fahren, „ein paar Decken austeilen, um ein paar wärmende Nächte zu bescheren“. Sein Kumpel Steffen, ein „strukturierter Schwabe“, sollte mit. Der langjährige Freund stoppte ihn aber, plädierte dafür, abzuwarten, um Spenden von Freunden und Familie einzusammeln und in einem großen Auto auf den Balkan zu fahren. „Die Sache größer aufziehen“, den „größtmöglichen Impact“ schaffen, das war der Plan.

Davon wird Eren während unseres Treffens in Bezug auf seine Arbeit noch oft sprechen. Es ist eine Geschichte von Fehlern und Lernprozessen, angetrieben vom Wunsch, möglichst vielen zu helfen. Beim ersten Einsatz klapperten sie noch unterschiedliche Privatadressen ab, um die Spenden einzusammeln. Beim zweiten Mal hatten sie schon zentrale Sammelstellen, wo sie auf die Spender warteten.

Serkan Eren ist ein Mann voller Energie. Schwarze Haare, dunkle Augen, darunter dunkle Augenringe. Die Themen, über die er spricht, sind schwer, aber Eren spricht irgendwie lässig darüber, mit seinen weitausholenden Gesten.

Aus der spontanen Aktion wurde bald ein Verein, für den sich neben den drei Freunden Serkan, Steffen und Bianca bisher auch bis zu 50 Freiwillige engagiert haben. Ihr Aufgabengebiet verschoben sie langsam von der griechischen Insel Chios auf den gegenüberliegenden Küstenstreifen in der Türkei, wo sie mit Imece zusammenarbeiten,  einer kleinen Organisation ehrenamtlicher Studierender. Gemeinsam versorgen sie an der türkischen Küste Tausende Flüchtlinge,  die versteckt vor der Polizei in leer stehenden Baracken oder im Zelt auf dem freien Feld hausen – egal ob Sommerhitze oder Minusgrade.

„Wir waren total naiv“

Als Eren und sein Kumpel Steffen zum ersten Mal auf den Balkan fuhren, waren Herbstferien. Zwei Typen, ein vollbepackter Sprinter und ein edles Ziel, vor dem Fenster zieht die Landschaft vorbei, und im Auto? Was dachten die beiden, als sie im Auto saßen? Der Flüchtlingshelfer geht nicht auf die Frage ein. Er hält sich nicht mit Unwichtigem auf, erzählt lieber von Abläufen und Fakten: „Wir waren total naiv“, sagt er, den Blick schon auf die Ankunft gerichtet.

Naiv, weil sie den Transporter einfach so öffnen wollten. Ein erfahrener Helfer von Ärzte ohne Grenzen hielt sie im letzten Moment davon ab: „Wisst ihr was auf einem Festival passiert, wenn ihr plötzlich Freibier verteilt?“ Von ihm bekamen sie ein Zelt, in dem die zwei Männer Kleidung, Schuhe und Jacken nach Größen sortiert aufbauten.

Das Zelt stand zwischen einem griechischen Flüchtlingscamp und der mazedonischen Grenze. Polizisten brachten Gruppen von 50 Flüchtlingen vorbei. Eren rannte der Gruppe zweihundert Meter entgegen, und kam mit Informationen über die Schuhgröße der Kinder oder Jackengrößen für die Eltern zu Steffen zurück. 16 Stunden lang arbeiteten die beiden Freunde am ersten Einsatztag. Sie merkten gar nicht, wie die Zeit verging. Dann kam der Hunger und irgendwann auch die Erschöpfung und sie beschlossen, das Zelt zu schließen. Schweren Herzens, weil ihre Abwesenheit bedeutete, dass die nächste Flüchtlingsgruppe keine Kleidung bekommt. „Aber selbst wenn du völlig fertig bist, dann rennst du trotzdem nochmal zurück zum Zelt, wenn dir auf dem Weg ins Hotel bei den Minusgraden ein Kind ohne Schuhe entgegen kommt.“

Vielleicht hat er damals zum ersten Mal bemerkt, wie schwer es sein kann, aufzuhören. Aber wenn er helfen kann, dann stellt er seine eigenen Bedürfnisse hinten an. Ein Muster, das sich bei ihm dauernd wiederholt: Als alle Kleiderspenden verteilt waren, verschenkten die Helfer auch ihre eigene Kleidung. „Wir sind danach fast nackt zurückgefahren“, sagt Eren. „Vor der Abfahrt habe ich meine eigenen Socken ausgezogen und sie einem frierenden Kind über die Schuhe gezogen.“

Eren spielt Gott

8.000 bis 9.000 Flüchtlinge kamen während des ersten Einsatzes an ihnen vorbei. Eren musste die schlimmen Fälle herausgreifen. „Du spielst Gott“, sagt er . „Abends liegst du dann im Bett und fragst dich: Habe ich da dem Richtigen geholfen?“

Eren zündet sich die nächste Zigarette an, schluckt, schaut zur Seite.  Er spricht zwar offen an, dass ihm seine Einsätze und das Engagement sehr zu schaffen machen. Aber die Gefühle lässt er sich nicht anmerken. Wo anderen vielleicht die Stimme zittern würde oder ein paar Tränen kommen würden, sagt er nur: „Das war richtig krass“, oder: „Das ist echt hart“.

Eren sagt, dass er keine Ahnung hatte, was ihn in Griechenland erwarten würde. Wenn er nun Freiwillige auf den Balkan schickt, will er es besser machen. Um sie vorzubereiten,  beschreibt er den Job „so mies wie möglich“, zeigt Bilder und berichtet von den Zuständen. Eren betont gegenüber den anderen, dass sie die ganze Hilfsaktion nur als Job sehen dürfen, damit es nicht so nah an sie heran tritt. Bei ihm selbst klappt das nicht ganz. Er habe schließlich auch eine andere Verantwortung, sagt er.

Eren erinnert sich noch genau an den Tag als er vom ersten Einsatz zurückkam. Die Stuttgarter kauften ein und saßen in Cafés, „hier die Kippe, da das kühle Bier“, sagt er. Eren aber saß abseits, allein – und sprachlos. Vor zwei Tagen war er noch im Krisengebiet, daheim hat sich die Welt aber nicht verändert.

Dass diese Parallelität vielen Helfern zu schaffen macht, beobachtet auch die Psychologin Ruth Dalheimer, die Vorträge für Ehrenamtliche anbietet, um zu verhindern, dass sie sich überfordern. „Um nicht in einen Erschöpfungszustand zu fallen, ist es wichtig, sich auch immer wieder zu reflektieren, zu spüren, wie innerlich belastet man selbst ist und innere Distanz vom Erlebten einzunehmen“, sagt sie.  „Wer das nicht tut, steht unter einem dauerhaften inneren Stress, und der führt zu Erschöpfung.“

„Serkan ist fix und fertig“

Eren drückt mit seinem Löffel auf der Zitrone herum. Seit er sich engagiert, hat er für nichts anderes mehr Zeit: „Es gibt nur das Projekt und meinen Job, sonst nichts.“ Seine Mutter habe er im letzten Jahr zwei Mal gesehen. Er schläft wenig, ist dauernd müde. Eine Zeit lang wachte er regelmäßig an der Endhaltestelle der Straßenbahn auf, oder fiel auf der Parkbank in Sekundenschlaf, einmal sogar beim Autofahren, an der roten Ampel. Der Arzt lieferte ihn sofort ins Krankenhause ein: Sein Puls und sein Herzschlag waren viel zu niedrig. Inzwischen ist es besser: „Wir haben zwar immer noch sehr viel Arbeit, aber immerhin Strukturen.“

„Serkan ist oft fix und fertig“, sagt auch die Freiwillige Sophia Eißler, die einmal auf dem Einsatz mit dabei war und der Organisation seitdem mehrfach in Deutschland ausgeholfen hat. Letztens erst hätten sie darüber gesprochen, was Eren gegen die Überbelastung machen könnte. Aber wirkliche Konzepte hat er nicht. Er will zwar seinen „Hauptjob als Lehrer“ kündigen. Aber nicht, um dann weniger Arbeit zu haben, sondern um sich voll auf die ehrenamtliche Arbeit zu konzentrieren.

Eren sieht seine eigene Motivation sehr selbstkritisch und reflektiert: „Das ich anfangs geholfen habe war purer Egoismus“, sagt er. „Ich hielt es nicht mehr aus und musste etwas tun. Das war so ein Konflikt in mir selbst, mein Bedürfnis in der Welt ein Plus zu schaffen.“ Das Projekt, sagt er, könne er jetzt nicht mehr fallen lassen. All die Energie, die verloren gehen würde. Energie, die ihn begeistert. Immer wieder schwärmt er davon, wie viel sie in diesem Kreis aus Helfern zustande bekommen: Ein Fotograf macht Bilder für sie, die Mutter eines Schulkinds hat das Logo entworfen, und der Mitarbeiter eines Paketdienstes einige der Transporte in die Türkei gezahlt.

Es geht weiter

Auch die Reichweite macht Eren glücklich: „Ich sehe, was ich persönlich tun kann. Es ist unglaublich, was unser Verein alles geleistet hat, für so viele Menschen!“ Dabei haben die Freiwilligen nur durch einen Zufall weitergemacht: Sie wollten die Facebookseite mit dem Spendenaufruf vor der Abfahrt wieder schließen. Das haben sie vergessen – und so kamen neue Spendengelder und neue Sachspendenangebote ein. Beiden war klar: Ein Mal müssen sie noch auf den Balkan fahren.

Der zweite Einsatz war sein schlimmster. Damals haben sie an der griechischen Küste eine Nacht lang Boote von Flüchtlingen an Land und dann die Menschen aus den Booten gezogen: Vier Tage lang hat über dem Mittelmeer ein Sturm gewütet. Am ersten windstillen Tag erwarteten die Hilfsorganisationen in Griechenland Hunderte von Flüchtlingen. Sie baten auch die anderen anwesenden Ehrenamtlichen um Hilfe. So auch Eren und sein Team. Und so warteten sie, sobald ein Boot zu sehen war, fuhren sie mit dem Auto an der Küste entlang an die Stelle und halfen den Menschen aus den Booten. Viele von ihnen hatten vier Tage lang nichts gegessen und getrunken, schlotterten vor Kälte, waren nass vom Wasser und panisch. Er traf auf Menschen mit Kriegswunden, oder „auf einen Vater, der noch vor paar Tagen mitansehen musste, wie sein Sohn von einem Granatsplitter getroffen wurde und starb“.

„Das war der Alptraum, die schlimmste Nacht meines Lebens,“, sagt Eren. Aber für ihn war diese Nacht auch ein Zeichen: Die ausgehungerten Flüchtlinge auf den Booten waren der Hinweis, dass ihre Hilfe auf der anderen Küstenseite mehr gebraucht wird. Es ging wieder darum, den „impact“, den Einfluss, zu vergrößern, mehr Menschen zu erreichen.

Für die Zukunft wünscht er sich, „dass unsere Arbeit überflüssig wird, weil alle Menschen auf der Welt gut leben können.“ Und im nächsten Atemzug schiebt er hinterher: „Aber das wird nicht passieren.“

Und so wird er weiterarbeiten. Wenn die Herausforderungen auf dem Balkan nachlassen, dann gäbe es schließlich viele weitere Regionen, in denen ihre Arbeit notwendig sei. Zwei Monate nach unserem Gespräch erzählt er von seinen Plänen für ein weiteres Projekt auf den Philippinen.

 

Fotos: Balkan Route Stuttgart


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