Die Geschichte eines Kriegskindes

Heute ist Bernd Colves ein zufriedener alter Mann, einst war er ein verstörtes Kind. 70 Jahre nach seiner Flucht erzählt der Kölner seine Geschichte.

von Liyang Zhao

Jeden Morgen, früh wenn alle noch schlafen, steht mein Nachbar in Gummistiefeln im Garten und arbeitet. Er füttert die Hühner, Ziegen und Hasen. Dabei pfeift er, sein Hahn kräht.

Er hat etwas bescheiden Fröhliches, das ich an ihm schon immer bewundert habe. Es scheint, als würde er schon immer so dort stehen, stolz und lächelnd. Doch was steckt wirklich hinter diesem glücklichen alten Mann? Ich wusste nie eine Antwort darauf, bis zu jenem Tag, an dem ich hinüber ging und ihm meine Hilfe anbot.

Wir sind in seinem Wohnzimmer. Er sitzt vor mir im Sessel, die Beine überkreuzt, mit einer Tasse Tee in der Hand. Der alte Mann kneift seine Augen zusammen, als er aus dem Fenster schaut. Seinen Namen sagt er, wolle er lieber nicht veröffentlicht sehen, nennen wir ihn Bernd Colves. Colves ist ein stolzer Mann mit weißem Haar, Schnäuzer und tiefen Falten. Seine alten, kräftigen Hände legt er behutsam auf das rechte Bein. Colves ist gefasst, hat eine ruhige Stimme als er mir seine Geschichte erzählt.

Die Flucht

„Ich werde es nie vergessen. Es war Anfang 1945, da kamen die Amerikaner. In der Nacht haben sie das Dorf besetzt. 24 Stunden durften wir nicht raus. Wir hörten Panzerketten, Schüsse und Schreie.“

Als Colves und seine Familie sich am nächsten Tag wieder raus wagten, sahen sie die Überreste der Nacht.

„Am Fluss sammelten die Amerikaner ihre verwundeten und vielen toten Soldaten ein und fuhren sie zu uns. Auf der großen Wiese vor unserem Haus luden sie die Leichen ab.“

Mein Nachbar ist ein Flüchtling, wenn man so will. Im zweiten Weltkrieg floh er mit seiner Familie aus Köln nach Ostpreußen. Damals war er gerade einmal sechs Jahre alt.

Wie hat ihn dieser bedeutende Abschnitt seines Lebens geprägt? Wie hat er es geschafft, all die Verluste zu überwinden, heute trotzdem so glücklich zu sein? Darüber will ich mit ihm reden.

Während er seine Geschichte erzählt, schaut er immer wieder auf den Boden, schüttelt den Kopf.

Tag und Nacht verfolgen ihn die Bilder des Krieges. Vieles hat er erlebt, viele schöne Erinnerungen an herzliche Menschen und neue Freundschaften. Aber er hatte auch Angst, Angst vor Fremden, vor Verstoßung und natürlich Angst vor dem Tod. Zuhause wartete der Krieg, das Verderben und dort draußen eine fremde Welt voll neuer Hoffnungen und Gefahren.

Im Rückblick sagt mein Nachbar, habe er noch Glück gehabt. „In Ostpreußen hatten wir es sehr gut auf einem Hof.“

„Wir dachten, der Krieg würde niemals enden“

Colves macht eine Pause. Er scheint über etwas nachzudenken. Dann steht er auf , verlässt den Raum und kommt mit einer Schachtel voller Fotos zurück. Als er den Deckel abnimmt, wirbelt Staub auf, es riecht nach altem Papier. Er blättert kurz darin herum, nimmt ein paar schwarz-weiße Bilder in die Hand und schaut sie sich an. Bernd Colves lächelt, als er seine Familie ansieht.

„Schau, das war meine Mutter. Sie war eine kluge und weitsichtige Frau.“

Er hält mir ein Foto hin, es ist farblos, leicht vergilbt und zeigt eine Frau. Sie ist kräftig, hat blondes lockiges Haar und einen energischen, gefassten Blick, fast wie er.

„Damals in Ostpreußen hat sie heimlich BBC gehört. Hätte man sie erwischt, hätten sie meine Mutter erschossen. Aber meine Mutter hatte es riskiert, weil sie wissen wollte, was auf uns zukam.“

Tatsächlich nährte sich die russische Front, erzählt Colves. Es war bald nicht mehr sicher in Ostpreußen. So zogen sie weiter nach Püchau, ein kleiner Ort an der Mulde.

„Später habe ich erfahren, dass viele unserer Bekannten in Ostpreußen durch die russische Armee getötet wurden.“

Mein Nachbar hatte großes Glück. Nicht jeder hat die lange Flucht voller Strapazen überlebt. Nur die wenigsten trafen auf hilfsbereite Familien, die ihnen Unterschlupf boten. Er erinnert sich zwar nicht mehr vollständig an die Flucht aus Köln, aber umso stärker prägten ihn die Erinnerungen an den langen Fußmarsch zurück nach Köln.

,,Wir dachten, der Krieg würde niemals enden“, sagt Colves.

Als die entscheidende Nachricht kam, hatten sie ihre Heimat Köln schon fast aufgegeben. Er erinnert sich ganz genau. Am 8. Mai 1945 war der Krieg vorbei.

„Wir haben uns gefreut auf Zuhause.“

Dann kam endlich der Tag des Abmarschs.

„Auf der Dorfstraße vor dem Hof standen unsere Handwagen. Den ersten Wagen zog mein Großvater. Den Riemen um die Schulter, die Deichsel in der Hand, mein Bruder und ich schoben. Er war schon über 70, hat sein Leben lang hart gearbeitet. Doch im Krieg musste jeder anpacken. Da konnte man keine Rücksicht nehmen, auf niemanden“, sagt Colves. „Wir haben uns gefreut auf Zuhause.“

Doch sie ahnten nicht, was auf sie zukommt. So zogen sie los auf den langen und beschwerlichen Weg von Sachsen nach Köln. Ein halbes Jahr lang sind sie gelaufen, 800 Kilometer zu Fuß mit der ganzen Familie. Sie hatten viel Leid gesehen und erlebt in diesen sechs unendlich erscheinenden Monaten. In langen Trecks zogen die Familien mit ihren Wagen Richtung Westen. Viele alte und kranke Menschen blieben am Rande neben ihren Wagen liegen, krank, oft tot. Niemand kümmerte sich um sie, niemand blieb stehen.  Jeder musste weiter, immer weiter im endlosen Treck.

,,Ich kann mich gut erinnern. Wir standen in einer großen Schlange. Da stand ein hoher Wagen mit einem kleinen Pferd. Und ganz hoch oben hatten die guten Leute ihre Oma festgebunden, richtig festgezurrt. Aber sie war still. Sie saß dort oben und schaute sich alles an.“

Mein alter Nachbar  lacht laut auf, eine kleine Träne rollt über seine Lachfalten. Dann schaut er wieder aus dem Fenster als würde er den langen Treck dort sehen.

Einige Tage später trafen sie die Familie wieder. Die Russen hatten ihnen das Pferd abgenommen.

„Nun standen sie dort, mit der Oma oben drauf und mussten schauen, wie sie weiterkamen. Wir hätten ihnen gern geholfen. Doch wie bei so vielen: Der Zug wartet auf niemanden. Es ging immer weiter. Und die Schwachen blieben am Rande.“

Zwischen den Ruinen wuchs Gras

Für einen kurzen Moment sehe ich den kleinen Jungen von damals vor mir sitzen. Jung und gutgläubig, so gern hätte er geholfen.

„In Osnabrück, fast schon Zuhause, standen wir auf der Plattform und warteten auf den Zug. Mutter hat wieder Brot verteilt. Für jeden ein kleines Stück. Großvater stand etwas abseits, von uns abgewandt. Es war eine eigenartige Situation. Und plötzlich brach er zusammen und starb.“

Er hält inne und sieht mich nicht an. Doch ich kann sehen, wie sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrt. Wieder rollt eine Träne seine Wange runter, dieses Mal aus Trauer. Sie tropft auf seine helle Cordhose und wird dort zu einem runden dunklen Fleck.

„Du weißt erst zu schätzen, was du hast, wenn du weißt, wie es ist, wenn du nichts hast.“

Als sie nach vielen Monaten endlich zu Hause in Köln ankamen, fanden sie anstelle ihres Hauses nur einen großen Schuttberg. Eine Luftmiene hatte alle ihre Habseligkeiten pulverisiert. Zwischen den Ruinen wuchs Gras. Wieder war es Zeit für einen Neuanfang.

 

Foto: YJ Khaw (Flickr) Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0


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