Wenn die Flucht im Kopf weitergeht

Viele Flüchtlinge haben traumatische Erlebnisse hinter sich. Doch die Behandlungszentren in Deutschland sind völlig überlastet – weil das Problem jahrelang nicht ernst genug genommen wurde.

von Egzona Hyseni und Niklas Becker

Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen müssen, lassen oft alles in ihrer Heimat zurück. Aber ihre Erinnerungen kommen mit, und meist sind sie heftige Belastungen.

In ihrer Heimat und auf der Flucht haben sie in ständiger Angst gelebt, Angehörige zurückgelassen, Leichen gesehen oder Gewalt erfahren. Wenn sie in Deutschland ankommen, bekommen sie erst einmal das Nötigste: einen Schlafplatz, etwas zu essen und Kleidung. Psychologische Hilfe steht nicht an erster Stelle.

Flüchtlinge in Erstaufnahmeeinrichtungen werden medizinisch versorgt. Bei Schmerzen können sie zum Arzt der Einrichtung gehen, in schlimmen Fällen kommen sie ins Krankenhaus.

Wartezeit auf einen Termin: neun bis zehn Monate.

Bei psychischen Erkrankungen ist es allerdings schwierig. Denn anders als bei einem Schnupfen ist viel schwerer einzuschätzen, wie akut die Erkrankung ist. Die zuständigen psychosozialen Zentren indes sind völlig überlastet. Dieter David, Leiter der psychologischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene in Stuttgart, sagt: „Die Wartezeit auf den ersten Termin beträgt hier inzwischen neun bis zehn Monate.“ Es mangelt an Personal, die Versorgungslücke wächst. Nicht nur in Stuttgart, sondern in ganz Deutschland.

Was ist eine posttraumatische Belastungsstörung?
Eine Posttraumatische Belastungsstörung ist eine psychische Erkrankung, die als Folgereaktion eines belastenden Erlebnisses auftreten kann.
Dabei erlebt der Betroffene sogenannte Flashbacks, in denen er die traumatisierenden Ereignisse in Gefühlen oder Bildern erneut durchlebt. Betroffene leiden beispielsweise unter Schlafstörungen, Albträumen, Panikattacken und somatoformen Schmerzen, also Schmerzen ohne organische Ursache. Häufig vermeiden Betroffene für sie beängstigende Situationen und gehen bisweilen kaum noch aus dem Haus.
Ohne Behandlung kann die Erkrankung chronisch werden. Es kann dann zu Suchtverhalten, Depressionen und in einigen Fällen auch zum Suizid kommen.

Das Psychosoziale Zentrum in Düsseldorf bekommt jährlich vier Mal mehr Anfragen als Behandlungsplätze zur Verfügung stehen. Die Psychotherapeuten dort müssen deshalb gut auswählen, wer zuerst drankommt: Flüchtlinge, die psychisch besonders belastet sind und komplexe Krankheitsbilder zeigen, würden bevorzugt behandelt, sagt die Leiterin und Systemtherapeutin Annette Windgasse. Wichtig sei auch, dass die Flüchtlinge, die große Verantwortung für Familienmitglieder und andere Menschen tragen, schneller behandelt werden. „Wenn diese Menschen wieder ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, multipliziert sich der Effekt der Therapie um ein Vielfaches.“

Noch dazu gibt es nicht einmal in jeder Stadt Anlaufstellen für traumatisierte Flüchtlinge. In Freiburg beispielsweise ist die Beratungsstelle seit 2005 geschlossen und wird erst seit kurzem mühsam wieder aufgebaut.

Zwar können sich Flüchtlinge auch bei niedergelassenen Psychotherapeuten behandeln lassen. Allerdings fehlt es oft an den für solche Fälle nötigen interkulturellen Kenntnissen. Und selbst wenn diese vorhanden sind, braucht es zusätzlich meist einen Dolmetscher.

Zu wenige, überlastete psychosoziale Zentren

Diese Hürden sollen durch Psychosoziale Zentren wie in Stuttgart überwunden werden. Damit die Flüchtlinge gut versorgt werden, müssen Psychotherapeuten, Dolmetscher und Sozialarbeiter eng zusammenarbeiten. Aber aktuell gibt es zu wenige solcher Zentren und die Existierenden sind völlig überlastet.

„Es gibt keine flächendeckende, bedarfsgerechte Versorgung“, sagt Elise Bittenbinder., Vorsitzende der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer. Diese Lücke, so Bittenbinder, habe schon jahrelang bestanden. „Durch die steigenden Flüchtlingszahlen hat sich das Problem nur potenziert.“ Sie macht sich Sorgen: „Wenn Menschen, die psychologische Hilfe brauchen, nicht unterstützt werden, werden ihre Probleme massiver, teilweise sogar chronisch. Das Ehrenamt kann das allein nicht auffangen.“ Es brauche deshalb einen politischen Impuls, der für eine nachhaltige Versorgungsstruktur für Flüchtlinge sorgt.

In Freiburg nimmt diese Versorgungsstruktur langsam Gestalt an. Martin Sieber, Facharzt für Kinder und Jugendpsychiatrie und Vorstand der Freiburger Vereinigung für psychisch kranke Kinder und Jugendliche treibt das Vorhaben voran. Sein Verein schreibt alle Psychotherapeuten im Raum Freiburg mit einem Fragebogen an und fragt, ob diese Interesse hätten, in einem solchen Zentrum mitzuwirken, zum Beispiel an der Betreuung von traumatisierten Kindern aus Krisengebieten. „Die Versorgung kommt in Gang“, sagt Sieber. „Allerdings geht das natürlich sehr langsam. Es ist uns wichtig, dass das Projekt auf einer finanziell stabilen Grundlage steht und damit nachhaltig ist. Das dauert.“

Folgen des Asylpakets II  für die psychische Versorgung
Laut dem zweiten Asylpaket sollen ausschließlich Gutachten von Ärzten und nicht mehr von Psychotherapeuten ausreichen, um eine Abschiebung auszusetzen. Das heißt: Für Flüchtlinge wird es deutlich schwieriger, eine Abschiebung aus psychischen Gründen aufzuschieben, denn bei einer posttraumatischen Belastungsstörung können oft nur Psychotherapeuten Gutachten erstellen.
Elise Bittenbinder, die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, verurteilt das scharf: „Das wirft uns um Jahrzehnte zurück. Eine posttraumatische Belastungsstörung ist eine ernsthafte Erkrankung, die sich schwerwiegend und lebensbedrohlich verschlechtern kann.“ Psychotherapeuten, sagt Bittenbinder, seien dafür ausgebildet und berechtigt, psychologisch qualifizierte Gutachten zu erstellen.
Ebendiese Gutachten sollen aber laut dem Asylpaket II einer Abschiebung nicht mehr entgegenstehen. Im Zweifel könnten dann tatsächlich schwerkranke Menschen abgeschoben werden.

 

Foto: Ryan Melaugh (Flickr) / Lizenz: CC-BY


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